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Anmerkung zu:BAG 9. Senat, Urteil vom 05.12.2023 - 9 AZR 230/22
Autor:Thomas Neumair, RA, FA für Arbeitsrecht und FA für Verkehrsrecht, Dipl.-Verwaltungswirt (FH)
Erscheinungsdatum:12.06.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 4 BUrlG, § 615 BGB, § 1 BUrlG, § 3 BUrlG, § 13 BUrlG, § 11 KSchG, § 6 BUrlG, 12016P031, EGRL 88/2003
Fundstelle:jurisPR-ArbR 23/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Neumair, jurisPR-ArbR 23/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anrechnung und Abgeltung des Urlaubsanspruchs in einem neuen Arbeitsverhältnis bei unwirksamer Kündigung des vorherigen Arbeitsverhältnisses



Leitsätze

1. Geht ein Arbeitnehmer nach einer rechtswidrigen Kündigung einer anderen Beschäftigung nach, entstehen für den Zeitraum der zeitlichen Überschneidung beider Arbeitsverhältnisse auch dann ungeminderte Urlaubsansprüche sowohl gegenüber dem alten als auch gegenüber dem neuen Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht hätte kumulativ erfüllen können.
2. In einem solchen Fall ist jedoch zur Vermeidung doppelter Urlaubsansprüche der Urlaub, den der Arbeitnehmer vom neuen Arbeitgeber erhalten hat, in entsprechender Anwendung von § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB auf den Urlaubs- bzw. Urlaubsabgeltungsanspruch gegen seinen alten Arbeitgeber anzurechnen. Die Anrechnung ist kalenderjahresbezogen vorzunehmen.



A.
Problemstellung
Die Abgeltung des erworbenen Urlaubsanspruches ist einer der regelmäßigen Streitpunkte bei der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Die Themen reichen dabei von der Frage, wie viele Tage Anspruch grundsätzlich entstanden sind, über die Erfüllung des Anspruchs bis zu den fein ausdifferenzierten Anforderungen der Rechtsprechung, welche das BAG in der Folge der unionsrechtlichen Anforderungen in der Ausprägung der Judikatur des EuGH in den letzten Jahren erfahren hat. Der nachfolgende Sachverhalt beschäftigt sich mit der nicht seltenen Konstellation, dass ein Arbeitnehmer nach ausgesprochener Kündigung ein weiteres Arbeitsverhältnis aufnimmt und gleichzeitig die Kündigung gerichtlich angreift.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das BAG hat zu entscheiden, in welchem Umfang auch im neuen Arbeitsverhältnis Urlaubsansprüche entstehen und wie diese im Verhältnis zu den Urlaubsansprüchen aus dem gekündigten Arbeitsverhältnis im Rahmen deren Abgeltung zu bewerten sind, wenn die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung gerichtlich festgestellt wird.
Dabei betont es zunächst noch einmal den Grundsatz, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch lediglich das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraussetzt. Die Klägerin habe im gekündigten Arbeitsverhältnis einen Urlaubsanspruch von 25 Arbeitstagen erworben. Denn das Entstehen des Anspruchs stehe nicht unter der Bedingung, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht habe. Der Umfang des gesetzlichen Urlaubsanspruchs sei dabei nach § 3 Abs. 1 BUrlG zu berechnen, er bemesse sich nach den regelmäßigen Tagen mit Arbeitspflicht. Dabei könne je nach den Umständen eine zeitabschnittsbezogene Berechnung erforderlich sein, indem die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage durch die Anzahl der Arbeitstage im Jahr geteilt und mit der Anzahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage multipliziert würden. Hier entspreche der vertragliche Urlaubsanspruch von 30 Werktagen bei der geltenden Fünf-Tage-Woche 25 Arbeitstagen Urlaub (20 Tage Mindesturlaub und 5 Tage Mehrurlaub).
Dieser Berechnung stehe dabei nicht entgegen, dass die Klägerin nach Zugang der fristlosen Kündigung keine Arbeitsleistung mehr erbracht habe. Denn nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh und dem sich daran ausrichtenden § 1 BUrlG sei der Zeitraum ohne Beschäftigung nach Ausspruch einer unwirksamen Kündigung grundsätzlich einem tatsächlichen Arbeitszeitraum gleichzustellen (vgl. EuGH, Urt. v. 25.06.2020 - C-762/18 und C-37/19; EuGH, Urt. v. 12.10.2023 - C-57/22). Dies sei die Konsequenz daraus, dass der Arbeitgeber mit der unwirksamen Kündigung seine Obliegenheit verletzt habe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Jahresurlaub zu nehmen (EuGH, Urt. v. 12.10.2023 - C-57/22). Dies sei auch bei Vorliegen eines sog. Doppelarbeitsverhältnisses nicht anders zu bewerten. Denn für das Entstehen des Urlaubsanspruchs sei ohne Bedeutung, dass der Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess den Fortbestand seines gekündigten Arbeitsverhältnisses geltend mache und währenddessen ein anderes Arbeitsverhältnis eingehe. Werde der Kündigungsschutzklage stattgegeben, bestünden zunächst in beiden Arbeitsverhältnissen Urlaubsansprüche, obwohl der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht gleichzeitig erfüllen könnte. Gehe der Arbeitnehmer nach einer rechtswidrigen Kündigung einer anderen Beschäftigung nach, bestünde nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG für den Zeitraum der zeitlichen Überschneidung beider Arbeitsverhältnisse bis zur Wiederaufnahme seiner Beschäftigung in dem ursprünglichen Arbeitsverhältnis ein Urlaubsanspruch ausschließlich bei seinem neuen Arbeitgeber. Ein Anspruch gegen den ursprünglichen Arbeitgeber stehe dem Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht insoweit nicht zu (vgl. EuGH, Urt. v. 25.06.2020 - C-762/18 und C-37/19 Rn. 79 f.). Die Richtlinie 2003/88/EG enthalte aber lediglich Mindestvorgaben, die bei ihrer Umsetzung einzuhalten seien. Die nationalen Regelungen, die – wie das BUrlG – einen höheren Schutz zugunsten des Arbeitnehmers vorsehen, stünden hier nicht entgegen.
Gehe ein Arbeitnehmer ein Doppelarbeitsverhältnis ein, entstünden daher nach den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG Urlaubsansprüche in beiden Arbeitsverhältnissen. Denn wenn bereits das Vorliegen eines Doppelarbeitsverhältnisses per se das Entstehen des Urlaubsanspruchs in einem der Arbeitsverhältnisse hindern würde, trüge allein der Arbeitnehmer das Risiko der Nichterfüllung seines Urlaubsanspruchs. Dies sei aber mit der Konzeption des BUrlG nicht zu vereinbaren, gemäß § 4 BUrlG entstünde nach erfüllter Wartezeit in jedem Arbeitsverhältnis dem Grunde und der Höhe nach der volle Urlaubsanspruch. Das zeige auch die Regelung in § 6 Abs. 1 BUrlG, der zufolge der Anspruch auf Urlaub nicht bestehe, soweit dem Arbeitnehmer für das laufende Kalenderjahr bereits von einem früheren Arbeitgeber Urlaub gewährt worden sei. Bei einem Wechsel des Arbeitgebers während des Urlaubsjahres stehe dem neuen Arbeitgeber keine Anrechnungsbefugnis zu, wenn der frühere Arbeitgeber Urlaub nicht erteilt oder nicht abgegolten hat (BAG, Urt. v. 21.02.2012 - 9 AZR 487/10 Rn. 15).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe sei richtig, dass sich die Klägerin unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens der § 11 KSchG und § 615 Satz 2 BGB den Urlaub, den ihr der neue Arbeitgeber gewährt habe, auf ihre Urlaubsansprüche gegen den Beklagten anrechnen lassen müsse. Urlaubsansprüche aus verschiedenen Arbeitsverhältnissen seien nach der Systematik des BUrlG außerhalb des Anwendungsbereichs des § 6 BUrlG grundsätzlich unabhängig voneinander zu erfüllen. Dabei enthalte das Gesetz aber für den Fall, dass ein Arbeitnehmer, den sein früherer Arbeitgeber aufgrund einer unwirksamen Kündigung nicht beschäftige, mit einem anderen Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis begründe, ohne die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen erfüllen zu können, keine explizite Regelung. Denn § 6 Abs. 1 BUrlG finde auf diese Konstellation keine Anwendung, die Vorschrift regle den Urlaubsanspruch, wenn der Arbeitnehmer während des Urlaubsjahres den Arbeitgeber wechselt. Bei aufeinanderfolgenden Arbeitsverhältnissen werde durch § 6 Abs. 1 BUrlG nur dann der Anspruch im neuen Arbeitsverhältnis ganz oder teilweise ausgeschlossen, wenn Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers bereits im früheren Arbeitsverhältnis erfüllt worden seien und auch im neuen Arbeitsverhältnis kein Urlaubsanspruch auf eine höhere Anzahl von Urlaubstagen als im früheren Arbeitsverhältnis entstehe. § 6 Abs. 1 BUrlG erfasse jedoch nicht den Fall, dass ein Arbeitnehmer nach einer Kündigung des Arbeitgebers ein anderweitiges Arbeitsverhältnis eingegangen und die Kündigung dann unwirksam sei (vgl. BAG, Urt. v. 21.02.2012 - 9 AZR 487/10 Rn. 16). Auch die Anrechnungsvorschriften in § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB seien nicht unmittelbar anwendbar, weil sie einen Anspruch aus Annahmeverzug gemäß § 615 Satz 1 BGB voraussetzen. Der auf die bezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht gerichtete Urlaubsanspruch gegen einen Arbeitgeber, der eine unwirksame Kündigung erklärt hat, beruhe aber nicht auf § 615 Satz 1 BGB, sondern folge unmittelbar aus dem BUrlG (vgl. BAG, Urt. v. 21.02.2012 - 9 AZR 487/10 Rn. 20).
Diese Regelungslücke sei durch eine analoge Heranziehung des § 11 Nr. 1 KSchG und des § 615 Satz 2 BGB zu schließen. Könne der Arbeitnehmer die Arbeitspflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht kumulativ erfüllen, gebiete der aus § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB abzuleitende Rechtsgedanke, die Verdopplung von Urlaubsansprüchen durch eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen zu vermeiden. Mit Schaffung des § 11 Nr. 1 KSchG habe der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, den Arbeitnehmer, der in einem Kündigungsrechtsstreit obsiege, weder besser noch schlechter, sondern grundsätzlich so zu stellen, als hätte keine Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses stattgefunden. Der Regelungszweck des § 615 Satz 2 BGB sei ähnlich, der Annahmeverzug solle dem Dienstverpflichteten weder finanzielle Vor- noch Nachteile bringen. Diese Interessenlage gelte auch für den Urlaub in Doppelarbeitsverhältnissen, denn sei der frühere Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitnehmer im Hinblick auf die in seinem Arbeitsverhältnis entstandenen Urlaubsansprüche freizustellen, obwohl der spätere Arbeitgeber ihm bereits bezahlten Jahresurlaub gewährt habe, läge eine nach den Wertungen des BUrlG nicht vorgesehene Verdopplung des Urlaubsanspruchs vor (vgl. BAG, Urt. v. 21.02.2012 - 9 AZR 487/10 Rn. 23).
Die analoge Anwendung stehe im Einklang mit dem unabdingbaren Schutz des gesetzlichen Mindesturlaubs nach den §§ 1, 3 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG und den Mindestvorgaben aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh. Denn dem Arbeitnehmer verbleibe ein höherer Urlaubsanspruch unabhängig davon erhalten, ob er beim alten oder neuen Arbeitgeber entstanden sei. Dies sei damit günstiger als das Unionsrecht, nach dem bereits keine Doppelansprüche entstünden. Zudem setze eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen voraus, dass zwischen dem kündigungsbedingten Freiwerden des Arbeitnehmers von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung in dem früheren Arbeitsverhältnis und dem Erwerb von Urlaubsansprüchen in dem neuen Arbeitsverhältnis ein kausaler Zusammenhang bestehe. Dabei sei von einer Kausalität im Regelfall auszugehen, wenn der Arbeitnehmer anstelle des früheren Vollarbeitsverhältnisses ein Arbeitsverhältnis bei einem neuen Arbeitgeber begründet, welches ebenfalls eine vollzeitige Beschäftigung zum Gegenstand habe.
Im Streitfall habe die Klägerin ihre Verpflichtung zur Arbeitsleistung aus dem späteren Arbeitsverhältnis nicht erfüllen können, ohne von der Arbeitsverpflichtung aus dem Arbeitsverhältnis mit dem Beklagten entbunden zu sein. Die Kausalität sei daher gegeben. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, sämtliche Urlaubstage, die von dem neuen Arbeitgeber gewährt worden waren, seien nach Maßgabe der Grundsätze für die Vergleichsberechnung beim Annahmeverzug nicht kalenderjahresbezogen, sondern kalenderjahresübergreifend auf die gegenüber dem Beklagten entstandenen Urlaubsansprüche anzurechnen, sei aber unrichtig. Denn anders als bei der nach § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB erforderlichen Gesamtberechnung (vgl. etwa BAG, Urt. v. 13.07.2022 - 5 AZR 498/21 Rn. 37) sei hier die Regelungssystematik des BUrlG zu beachten, welche einen kalenderjahresbezogenen Anspruch ausgestalte. Der Vergleich zwischen dem im Arbeitsverhältnis mit dem ursprünglichen Arbeitgeber entstandenen Urlaub mit dem im neuen Arbeitsverhältnis gewährten Urlaub sei deshalb abschnittsweise, also bezogen auf das jeweilige Kalenderjahr, vorzunehmen. Ein im neuen Arbeitsverhältnis gewährter Urlaub, der den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers gegenüber seinem ursprünglichen Arbeitgeber für dasselbe Jahr übersteige, vermindere nicht den Urlaubsanspruch gegenüber dem ursprünglichen Arbeitgeber im Folgejahr. Dadurch werde sichergestellt, dass der unabdingbare Schutz des gesetzlichen Mindesturlaubs nach den §§ 1, 3 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG unangetastet bleibe.
Mit dieser Jahresbezogenheit sei es unvereinbar, im Rahmen einer analogen Anwendung von § 11 KSchG und § 615 Satz 2 BGB den im neuen Arbeitsverhältnis gewährten Urlaub auf den dem Arbeitnehmer im gekündigten Arbeitsverhältnis entstandenen Urlaub im Rahmen einer kalenderjahresübergreifenden Vergleichsberechnung anzurechnen. Eine solche jahresübergreifende Gesamtbetrachtung lasse sich auch nicht mit der vom EuGH vorgenommenen Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRCh vereinbaren, weil ein wirksamer Schutz der Sicherheit und Gesundheit des Arbeitnehmers durch eine tatsächliche Ruhezeit dann nicht mehr gegeben wäre (EuGH, Urt. v. 14.12.2023 - C-206/22 Rn. 30). Dies gelte auch für den vertraglichen Mehrurlaub, wenn es im zwischen den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrag an Regelungen zur Anrechnung von Urlaubsansprüchen fehle. Der Höhe nach führe die Anrechnung dazu, dass in dem Augenblick, in dem der neue Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Urlaub gewähre und der Arbeitnehmer diesen in Anspruch nehme, der Urlaubsanspruch gegen den Arbeitgeber, mit dem er zuerst ein Arbeitsverhältnis begründet hat, in eben diesem Maße gemindert werde. Dies habe aber nicht zur Folge, dass ein Arbeitnehmer, dessen Urlaubsvergütung aus dem neuen Arbeitsverhältnis geringer sei als die im gekündigten Arbeitsverhältnis, für die Urlaubsdauer im Ergebnis nicht sein gewöhnliches Arbeitsentgelt erhielte. Sei die Urlaubsvergütung, die der Arbeitnehmer von seinem neuen Arbeitgeber bezogen habe, geringer als die Urlaubsvergütung beim alten Arbeitgeber, könne der Arbeitnehmer den Arbeitgeber des Ausgangsarbeitsverhältnisses auf die Zahlung einer höheren Annahmeverzugsvergütung in Anspruch nehmen. Dadurch sei gewährleistet, dass dem Arbeitnehmer für jeden Urlaubstag beim neuen Arbeitgeber im Ergebnis zugleich die gewöhnliche Vergütung, und zwar als Annahmeverzugsvergütung, beim vorherigen Arbeitgeber erhalte. Auf den der Klägerin für das Jahr 2020 gegen den Beklagten zustehenden Urlaubsanspruch in Höhe von 25 Arbeitstagen seien demnach die ihr von ihrem neuen Arbeitgeber gewährten 25 Urlaubstage anzurechnen, die Revision insoweit unbegründet.


C.
Kontext der Entscheidung
Das BAG bezieht sich bei seiner Entscheidung vor allem auf die bereits bestehende Rechtsprechung aus dem Jahr 2012 (BAG, Urt. v. 21.02.2012 - 9 AZR 487/10). Damals hat das BAG bereits festgestellt, dass eine Analogie voraussetzt, dass das BUrlG für die obige Fragestellung eine planwidrige Regelungslücke enthält und eine für die Anwendbarkeit der analog herangezogenen Vorschriften vergleichbare Interessenlage vorliegt. Die analoge Anwendung muss dabei zur Ausfüllung der Lücke erforderlich sein, so dass die Rechtsfolge eines gesetzlichen Tatbestands auf einen vergleichbaren, aber im Gesetz nicht geregelten Tatbestand zu übertragen ist. Eine Unvollständigkeit des Gesetzes hat das BAG bei Doppelarbeitsverhältnissen verneint, wenn der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen erfüllen kann (so schon BAG, Urt. v. 19.06.1959 - 1 AZR 565/57). Grundsätzlich sind nach der Regelungssystematik des BUrlG außerhalb der Regelung in § 6 BUrlG Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers aus verschiedenen Arbeitsverhältnissen unabhängig voneinander zu erfüllen. Geht ein Arbeitnehmer gleichzeitig mehrere zeitlich nicht kollidierende Arbeitsverhältnisse ein, ist deshalb grundsätzlich jeder Arbeitgeber zur Urlaubsgewährung verpflichtet. Das BUrlG weist dabei dem Arbeitnehmer dieses Risiko der Rechtsdurchsetzung gegen einen der beiden Arbeitgeber nicht zu (vgl. BAG, Urt. v. 21.02.2012 - 9 AZR 487/10 Rn. 15). Auch der im Jahr 2012 entschiedene Streitfall hat aber bereits zum Gegenstand, dass eine solche Möglichkeit der Erfüllung der Arbeitsverpflichtung in beiden Arbeitsverhältnissen nicht bestanden hat. Das BAG argumentiert insoweit auch mit dem Sinn und Zweck des gesetzlichen Urlaubsanspruchs. Wenn der alte Arbeitgeber in einer solchen Konstellation ohne eine Anrechnung Urlaub gewähren muss, obwohl der Urlaub bereits beim neuen Arbeitgeber gewährt worden ist, erhält der Arbeitnehmer im Ergebnis doppelt so viel Urlaub wie eigentlich vorgesehen. Dem Erholungszweck, der aber auch der maßgebliche Aspekt der unionsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH ist, ist in diesem Fall aber schon durch die Urlaubsgewährung des neuen Arbeitgebers Genüge getan worden (vgl. EuGH, Urt. v. 22.11.2011 - C-214/10 Rn. 31 „KHS“; BAG, Urt. v. 20.06.2000 - 9 AZR 405/99). Dieser Zweck wird auch durch die Jahresbezogenheit des Urlaubsanspruchs abgebildet, wobei diese auch prozessrechtlich von Bedeutung ist: Der Urlaub eines jeden Kalenderjahres stellt einen gesonderten Streitgegenstand dar (vgl. BAG, Urt. v. 31.01.2023 - 9 AZR 456/20 Rn. 63; BAG, Urt. v. 23.01.2018 - 9 AZR 200/17 Rn. 26 ff.). Durch die Bindung des Urlaubs an das Kalenderjahr soll gewährleistet werden, dass der Erholungszweck in jedem Jahr erfüllt wird. Ebenso wenig wie eine Urlaubsgewährung im Vorgriff auf das nächste Urlaubsjahr zulässig ist, kann zu viel gewährter Urlaub des Vorjahres auf den Urlaubsanspruch des nächsten Jahres angerechnet werden (vgl. BAG, Urt. v. 11.07.2006 - 9 AZR 535/05 Rn. 21; BAG, Urt. v. 17.01.1974 - 5 AZR 380/73; BAG, Urt. v. 16.03.1972 - 5 AZR 357/71).
Unionsrechtlich ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, dass jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, den der nationale Gesetzgeber nur in den Grenzen umsetzen darf, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogen werden (vgl. EuGH, Urt. v. 22.09.2022 - C-518/20 und C-727/20 Rn. 24 m.w.N.). In Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 wird dieses Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 31 Abs. 2 GRCh konkretisiert, der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub darf dabei nach der Rechtsprechung des EuGH nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. EuGH, Urt. v. 30.06.2016 - C-178/15 Rn. 21). Mit dem Anspruch auf Jahresurlaub wird ein doppelter Zweck verfolgt, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (EuGH, Urt. v. 25.06.2020 - C-762/18 und C-37/19 Rn. 57). Insoweit muss der Arbeitnehmer den in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen bezahlten Mindestjahresurlaub ebenso wie die anderen in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindestruhezeiten tatsächlich in Anspruch nehmen können (vgl. EuGH, Urt. v. 06.11.2018 - C-619/16 Rn. 49 und EuGH, Urt. v. 04.06.2020 - C-588/18 Rn. 32).
Es entspricht auch ständiger Rechtsprechung des BAG, dass die Richtlinie 2003/88/EG unter Berücksichtigung ihres ersten Erwägungsgrunds keine Vollharmonisierung anstrebt, sondern Mindestvorgaben enthält, die bei der Umsetzung der Richtlinie einzuhalten sind (so z.B. auch BAG, Urt. v. 14.12.2022 - 10 AZR 8/21 Rn. 27). So ist es dem nationalen Gesetzgeber nicht verwehrt, über den in der Richtlinie enthaltenen Mindestschutz hinauszugehen und ein höheres Schutzniveau vorzusehen. Denn der Grund und die Grenze für die Geltung des Rechts der Europäischen Union in der Bundesrepublik Deutschland ist der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl, der nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 - 2 BvR 197/83). Der Vorrang des Unionsrechts gilt in Deutschland nur kraft des durch Zustimmungsgesetz zu den Verträgen erteilten Rechtsanwendungsbefehls. Der Anwendungsvorrang reicht für in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt nur so weit, wie die Bundesrepublik Deutschland dieser Kollisionsregel zugestimmt hat und zustimmen durfte (vgl. BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 - 2 BvE 2/08 Rn. 343). Bereits hieraus ergibt sich, dass der deutsche Gesetzgeber Vorgaben vorsehen kann, welche über die Rechtsetzungsakte der Europäischen Union hinausgehen. Die Entscheidung des BAG ist überzeugend begründet und auch dogmatisch zutreffend.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das BAG hat einmal mehr klargestellt, in welcher Weise die Anrechnung von Urlaubsansprüchen in sog. Doppelarbeitsverhältnissen stattzufinden hat. Für den Rechtsanwender ist gerade in dem von Neuerungen nicht selten betroffenen Bereich des Urlaubsrechts nochmals Rechtssicherheit über die zu berücksichtigenden Maßstäbe geschaffen worden. Insoweit hat das BAG seine frühere Rechtsprechung aus dem Jahr 2012 bekräftigt.



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