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Anmerkung zu:OVG Münster 22. Senat, Urteil vom 29.11.2022 - 22 A 1184/18
Autor:Prof. Dr. Thomas Düncheim, RA
Erscheinungsdatum:02.03.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 10 BImSchG, § 1 UmwRG, § 74 BNatSchG, Anlage 1 BNatSchG, Art 20a GG, § 2 UmwRG, § 42 VwGO, Art 19 GG, § 45b BNatSchG, § 44 BNatSchG, § 45 BNatSchG
Fundstelle:jurisPR-ÖffBauR 3/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Johannes Handschumacher, RA und FA für Bau- und Architektenrecht
Zitiervorschlag:Düncheim, jurisPR-ÖffBauR 3/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Drittanfechtung der Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windenergieanlagen aus Gründen des Artenschutzes



Leitsätze

1. Die den Betrieb von Windenergieanlagen an Land betreffende Sondervorschrift des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG findet im Rahmen der artenschutzrechtlichen Prüfung auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (erstmalig) Anwendung, wenn der Vorhabenträger dies nach § 74 Abs. 5 BNatSchG verlangt.
2. Nach § 45b Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG und dem dort vorausgesetzten Abstand zum Brutplatz genügt zur Herabsetzung des Tötungsrisikos für den Rotmilan unter die Signifikanzschwelle in der Regel bereits eine der dort aufgeführten Schutzmaßnahmen. Dabei kann es sich auch um eine Abschaltung bei landwirtschaftlichen Ereignissen handeln, die nicht derjenigen nach Abschnitt 2 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG entspricht, aber fachlich anerkannt ist.
3. Es ist nicht zu beanstanden, dass weder der Mäusebussard noch die Feldlerche in Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG als kollisionsgefährdete Brutvogelart aufgeführt sind. Diese gesetzliche Einschätzung ist vielmehr jedenfalls naturschutzfachlich vertretbar.
4. Die Beurteilung der Störempfindlichkeit der Wachtel gegenüber Windenergieanlagen richtet sich nicht nach Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG, weil dessen Anwendungsbereich insoweit nicht eröffnet ist. Auch für diese Art ist aber die Annahme einer fehlenden Windenergieempfindlichkeit jedenfalls naturschutzfachlich vertretbar.
5. Für den Mornellregenpfeifer kann nach den konkreten Umständen naturschutzfachlich vertretbar von einer Meidedistanz gegenüber Windenergieanlagen von 500 m ausgegangen werden.
6. Im Rahmen der Prüfung der Verfüg- und Erreichbarkeit von alternativen Rastflächen des Mornellregenpfeifers „im räumlichen Zusammenhang“ gemäß § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BNatSchG ist auch dessen spezifisches Verhalten beim Anflug auf einen Rastplatz in den Blick zu nehmen.
7. Dass nach dem Ausnahmegrund des § 45 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. § 45b Abs. 8 Nr. 1 BNatSchG der Betrieb von Windenergieanlagen der öffentlichen Sicherheit dient, begegnet angesichts der aktuell besonders gefährdeten Sicherung der Energieversorgung auch in unionsrechtlicher Hinsicht keinen durchgreifenden Bedenken.
8. Für die Prüfung nach § 45 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 45b Abs. 8 Nr. 3 BNatSchG, ob innerhalb eines Radius von 20 Kilometern um das Vorhaben zumutbare Alternativen nicht gegeben sind, ist aufgrund der zwangsläufig vorhandenen, im Tatsächlichen liegenden Schwierigkeiten allein der Maßstab der Plausibilität anzulegen.



A.
Problemstellung
Der zügige Ausbau von Windenergieanlagen (WEA) ist bekanntermaßen von zentraler Bedeutung zur Bewältigung der Energiewende. Ein zahlen- und flächenmäßiger Anstieg von WEA, bevorzugt in der Nähe landwirtschaftlich genutzter Flächen, steht jedoch bisweilen in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis zwischen arten- und naturschutzrechtlichen Vorschriften. Insbesondere die negativen Auswirkungen auf heimische Vogelarten führen immer wieder zu (rechtlichen) Konflikten zwischen Betreibern der WEA, Behörden und Umweltrechtsverbänden.
Letzteren stehen seit der Einführung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) im Jahr 2006 auch abweichend vom verwaltungsrechtlichen Grundsatz des § 42 Abs. 2 VwGO gemäß § 2 Abs. 1 UmwRG verwaltungsgerichtliche Rechtsbehelfe zu.
Diese sich durch den stetig steigenden Ausbau der WEA verstärkenden Konflikte beschäftigen die Verwaltungsgerichte im ganzen Land und bringen diese teilweise an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Um Abhilfe zu schaffen und somit einen effektiven Rechtsschutz der Rechtsschutzsuchenden zu gewährleisten, verleiht die Legislative den Gerichten Hilfestellungen in naturschutzfachlichen Bewertungsfragen. Beispielhaft dafür ist § 45b BNatSchG, welcher durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes vom 20.07.2022 mit Wirkung vom 29.07.2022 (BGBl I 2022, 1362) eingeführt wurde. In diesem Zusammenhang lohnt es sich darüber hinaus einen erneuten Blick auf das gar nicht mehr so junge, aber noch immer hochaktuelle UmwRG zu werfen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger, eine anerkannte Umweltvereinigung, wandte sich im Wege der Drittanfechtungsklage nach § 2 Abs. 1 UmwRG gegen eine der Beigeladenen erteilten immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von elf WEA. Das Genehmigungsverfahren nach § 10 BImSchG beinhaltete sowohl die Öffentlichkeitsbeteiligung als auch eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Diese war aufgrund der Möglichkeit einer Kumulationswirkung von mehreren bestehenden Windparks mit den neu am Vorhabenstandort zu errichtenden WEA und artenschutzrechtlichen Bedenken erforderlich.
Zwar brachte der Kläger im Genehmigungsverfahren artenschutzrechtliche Bedenken vor, jedoch konnte er die am 09.02.2016 erteilte Genehmigung nicht verhindern. Der Genehmigungsbescheid wurde dem Kläger als Einwender i.S.d. § 10 Abs. 7 BImSchG am 13.02.2016 zugestellt. Er enthielt die beantragte immissionsschutzrechtliche Genehmigung, verbunden mit artenschutzrechtlichen Nebenbestimmungen zum Schutz verschiedener Tierarten, u.a. des Rotmilans, welche in der Folgezeit durch Änderungs- und Abhilfebescheide mehrfach abgeändert wurden.
Das VG Arnsberg als Vorinstanz gab dem Hauptantrag zunächst statt und hob die immissionsschutzrechtliche Genehmigung auf. Zur Begründung führte das Gericht im Wesentlichen aus, das genehmigte Vorhaben verstoße mit Blick auf verschiedene Vogelarten gegen das artenschutzrechtliche Tötungs- und das artenschutzrechtliche Störungsverbot aus § 44 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BNatSchG. Der Beklagte sei selbst davon ausgegangen, dass bei Realisierung des Vorhabens ein Verstoß gegen das Zugriffsverbot eintreten werde. Die vorgesehenen Nebenbestimmungen seien nicht ausreichend. Eine Entscheidungsergänzung oder ein ergänzendes Verfahren kämen nicht in Betracht.
Danach haben die Beigeladene und der Beklagte die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und trugen inhaltlich vor, dass, ein Verstoß gegen artenschutzrechtliche Verbote nicht festzustellen und die in den Nebenbestimmungen vorgesehenen Artenschutzmaßnahmen jedenfalls ausreichend seien.
Dagegen erwidert der Kläger im Wesentlichen, dass das Vorhaben in Bezug auf etliche Vogelarten gegen artenschutzrechtliche Zugriffsverbote i.S.d. § 44 Abs. 1 BNatSchG verstößt. Ferner sei die Anwendung des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG für ein laufendes verwaltungsgerichtliches Verfahren nicht vorgesehen. Auch seien die artenschutzrechtlichen Nebenbestimmungen des Beklagten völlig unzureichend und etwaige Ausnahmen von § 44 Abs. 1 BNatSchG nicht einschlägig. Insbesondere die Voraussetzungen der §§ 45 Abs. 7, 45b Abs. 8 Nr. 2 BNatSchG lägen nicht vor.
Die Berufungen der Beigeladenen und des Beklagten sind erfolgreich. Sie sind zulässig und begründet. Der Senat betrachtet die der Beigeladenen erteilten immissionsschutzrechtliche Genehmigung als rechtmäßig. Dazu im Einzelnen:
Zunächst ergibt sich die Klagebefugnis als anerkannte Vereinigung abweichend von § 42 Abs. 2 VwGO aus § 2 Abs. 1 UmwRG, da es sich um eine Klage gegen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, also eine Entscheidung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG, handelt. Auch im Übrigen sei die Klage zulässig.
Zur Begründetheit führt das OVG Münster aus, dass ein Verstoß der streitgegenständlichen immissionsschutzrechtlichen Genehmigung gegen Rechtsvorschriften i.S.d. § 2 Abs. 4 UmwRG sowohl mit Blick auf das Verfahrensrecht als auch mit Blick auf das materielle Recht zu verneinen ist.
Auch materiell-rechtlich sieht das OVG Münster keine durchschlagenden Angriffspunkte. Das Bauplanungsrecht stehe der Genehmigungserteilung nicht im Wege. Entgegen der Auffassung des Klägers findet die Sondervorschrift des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG im Rahmen der artenschutzrechtlichen Prüfung durch das Gericht Anwendung. Das ergebe sich schon aus § 74 Abs. 5 BNatSchG, der keine Ausnahmen vorsieht. Dem Vorhabenträger sollte mit dieser Vorschrift nach Ansicht des Gesetzgebers vielmehr „größtmögliche Flexibilität in der Übergangszeit“ gewährt werden (vgl. BT-Drs. 20/2354, S. 31). Im Übrigen entspräche ein solches Verständnis allgemeinen prozessualen Grundsätzen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei bei einer immissionsschutzrechtlichen Drittanfechtungsklage – wie hier – grundsätzlich der Zeitpunkt der Genehmigungserteilung. Während nachträgliche Änderungen der Sach- und Rechtslage zulasten des Anlagenbetreibers außer Betracht bleiben, sind solche – hierzu gehört gerade auch das nach § 74 Abs. 5 BNatSchG eingeräumte Wahlrecht – zu dessen Gunsten zu berücksichtigen.
Die Vorschrift des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG betrifft den Betrieb von WEA an Land. Die Norm unterstützt die fachliche Beurteilung, ob nach § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare kollisionsgefährdeter Brutvogelarten im Umfeld ihrer Brutplätze durch den Betrieb von WEA signifikant erhöht und fachlich anerkannte Schutzmaßnahmen für diese Brutvogelarten ausreichend sind (vgl. ab Rn. 138). Nachdem die Beigeladene die Anwendung von § 45b BNatSchG mit Schriftsatz vom 03.11.2022 verlangt hat, gilt § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG in Abweichung von § 74 Abs. 4 BNatSchG und nach Maßgabe des § 74 Abs. 5 BNatSchG.
Es ist zu beachten, dass die Neuregelung des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG gerade der Umsetzung der Vorgaben des BVerfG dient, nach denen der Gesetzgeber unter bestimmten Umständen gehalten sein kann, hinsichtlich des Umgangs mit auf naturschutzrechtliche Zusammenhänge verweisenden Tatbestandsmerkmalen für eine zumindest untergesetzliche Maßstabsbildung zu sorgen. Im Anwendungsbereich dieser Neuregelung sollen also gerade Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen „Erkenntnisvakuum“ – hier naturschutzfachlichen Bewertungsfragen hinsichtlich des Tötungs- und Verletzungsrisikos von Vögeln durch WEA – entgegengewirkt und eine bessere Handhabbarkeit durch die Gerichte erreicht werden.
Insoweit hat der Gesetzgeber In § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG i.V.m. Anlage 1 Abschnitt 1 BNatSchG nunmehr Vorgaben gemacht. Gemäß § 45b Abs. 1 BNatSchG gelten für die fachliche Beurteilung, ob nach § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare kollisionsgefährdeter Brutvogelarten im Umfeld ihrer Brutplätze durch den Betrieb von WEA signifikant erhöht ist, die Maßgaben der Absätze 2 bis 5. Danach erfolgt eine differenzierte Betrachtung nach dem Abstand zwischen dem Brutplatz einer Brutvogelart und der Windenergieanlage bzw. eine Einteilung in „Nahbereich“, „Zentraler Prüfbereich“ und „Erweiterter Prüfbereich“ und auf dieser Grundlage eine Beurteilung des Tötungs- und Verletzungsrisikos der den Brutplatz nutzenden Exemplare.
Nach Anwendung der Vorschrift kann festgehalten werden, dass Verstöße mit Blick auf artenschutzrechtliche Verbote des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG hinsichtlich der angeführten Vogelarten nicht bestehen. Die der streitgegenständlichen Genehmigung beigefügten artenschutzrechtlichen Nebenbestimmungen wirken einem Verstoß gegen das artenschutzrechtliche Tötungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG hinreichend entgegen.
Auch ein Verstoß gegen das Störungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG wird weitestgehend negiert. Ferner liegen hinsichtlich des Mornellregenpfeifers auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme nach § 45 Abs. 7 BNatSchG i.V.m. § 45b Abs. 8 BNatSchG vor, da der Betrieb von WEA im überragenden öffentlichen Interesse liegt und der öffentlichen Sicherheit dient. Der Ausbau der Nutzung der Windkraft leiste einen faktisch unverzichtbaren Beitrag zu der verfassungsrechtlich durch Art. 20a GG und durch grundrechtliche Schutzpflichten gebotenen Begrenzung des Klimawandels und helfe dabei, das verfassungsrechtlich maßgebliche Klimaschutzziel zu wahren, die Erderwärmung bei deutlich unter 2,0°C, möglichst 1,5°C anzuhalten. Dazu müssten erhebliche weitere Anstrengungen der Treibhausgasreduktion unternommen werden, wozu insbesondere der Ausbau der Windkraftnutzung beitragen solle. Zugleich unterstütze der Ausbau die Sicherung der derzeit besonders gefährdeten Energieversorgung und trage zur Deckung des infolge des Klimaschutzziels entstehenden Bedarfs an emissionsfrei erzeugtem Strom bei und verringere überdies die Abhängigkeit von Energieimporten. Dem könne eine (nur potenzielle) Beeinträchtigung des allgemeinen Erhaltungszustandes einer Vogelart schon unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht entgegengehalten werden (vgl. Rn. 369).


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung nimmt zwei neuralgische Dauerbrenner verwaltungsgerichtlicher Verfahren in den Blick. Zum einen führt das Gericht im Rahmen der Zulässigkeit umfassend im Hinblick auf die sog. Klagebefugnis der Umweltorganisation gemäß § 2 Abs. 1 UmwRG aus. Grundsätzlich soll die Zulässigkeitsvoraussetzung der Klagebefugnis eine Entlastung der Gerichte bewirken, um die Handlungsfähigkeit der Justiz zu gewährleisten. Es wird vorausgesetzt, dass der Betroffene geltend machen kann, durch die staatliche Maßnahme in eigenen Rechten verletzt zu sein, § 42 Abs. 2 VwGO.
Dass der Kläger als Umweltrechtsorganisation in Abweichung zu der grundsätzlich anerkannten Schutznormtheorie verwaltungsgerichtlich tätig werden kann, geht auf das 2006 eingeführte UmwRG (BGBl I, 2816) zurück. Dieses ermöglicht Umweltrechtsverbänden unter Einhaltung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 UmwRG, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend zu machen. Zuvor scheiterte eine solche Klage bereits am sog. drittschützenden Charakter im Sinne der Schutznormtheorie (Dünchheim in: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012, S. 684). Dabei ist § 2 Abs. 1 UmwRG eine andere gesetzliche Bestimmung i.S.d. § 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO (Happ in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 2 UmwRG Rn. 1). Somit treten die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 UmwRG an die Stelle des § 42 Abs. 2 Alt. 2 VwGO.
Zum anderen setzt sich das Gericht im Rahmen der Begründetheit intensiv mit dem Problem der Überprüfung behördlicher Entscheidungen auseinander, die in einem durch das Gericht mangels fachwissenschaftlicher Expertise nicht mehr bewertbaren „Erkenntnisvakuum“ entstehen. Solche Entscheidungen sind gerade bei der Beurteilung des (Nicht-)Vorliegens von Tatbestandsmerkmalen im Bereich natur- und artenschutzrechtlicher Vorschriften keine Seltenheit, führen aber zu Unsicherheit in der Anwendungspraxis sowohl bei Antragstellern als auch Behörden. Vorliegend musste das Gericht sich mit der Frage auseinandersetzen, ob durch das genehmigungsbedürftige Vorhaben, den Bau von WEA, das Tötungs- und Verletzungsrisiko für bestimmte Vogelarten signifikant erhöht hat und ob die Beeinträchtigungen durch Anwendung von Schutzmaßnahmen vermeidbar wären oder nicht, vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG. Wenn es für die Erfassung und Bewertung vorhabenbedingter Auswirkungen keine gesetzlichen Vorgaben oder untergesetzliche Maßstäbe in Form von verbindlichen Festlegungen etwa mittels Durchführungsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften gibt und sogar in einschlägigen wissenschaftlichen Dokumenten keine allgemein anerkannten Maßstäbe und Methoden bestehen, ist es dem Gericht durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht auferlegt, das außerrechtliche, tatsächliche Erkenntnisdefizit aufzulösen.
Abhilfe schaffen soll der neue § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG. Mit diesem hat der Gesetzgeber Vorgaben für die fachliche Beurteilung gemacht, ob nach § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare kollisionsgefährdeter Brutvogelarten im Umfeld ihrer Brutplätze durch den Betrieb von WEA signifikant erhöht ist. Es erfolgt eine differenzierte Betrachtung nach Abstand zwischen dem Brutplatz einer Brutvogelart und der Windenergieanlage bzw. eine Einteilung in „Nahbereich“, „Zentraler Prüfbereich“ und „Erweiterter Prüfbereich“. Auf dieser Grundlage erfolgt eine Beurteilung des Tötungs- und Verletzungsrisikos der den Brutplatz nutzenden Exemplare. Dies erleichtert die Prüfung zum Vorliegen des Kriteriums der Signifikanz gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ganz erheblich.
Mit der Anwendung von § 45 Abs. 7 BNatSchG i.V.m. § 45b Abs. 8 BNatSchG rückt ein weiterer Absatz des § 45b BNatSchG in den Blickpunkt, dessen Anwendung zur Begründung von Einzelfallausnahmen der Verbote des § 44 BNatSchG herangezogen werden kann.
Vor dem Hintergrund der unbestrittenen Aufgabe des Gesetzgebers, den Ausbau der Windkraft durch Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren zu fördern, (BT-Drs. 20/2354, S. 17), wollte der Gesetzgeber die Erteilung einer artenschutzrechtlichen Ausnahmeerteilung für den Betrieb von WEA erleichtern und rechtssicher gestalten (BT-Drs. 20/2354, S. 26).
Damit ist diesem, trotz der Einschränkungen in § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG, aus juristischer Perspektive ein auffangtatbestandsähnlicher Rundumschlag gelungen, welcher die Durchschlagskraft von § 44 BNatSchG bei Vorhaben, die dem Ausbau erneuerbarer Energien oder vergleichbar wichtiger Ziele dienen, grundsätzlich gehörig beschränkt. Ob das durch die Ampel-Regierung initiierte Gesetzesvorhaben tatsächlich zur Windkraft-Offensive beiträgt, indem die zukünftigen Planungs- und Genehmigungsverfahren von WEA tatsächlich erheblich beschleunigt werden, bleibt allerdings abzuwarten.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung ist geeignet, zu mehr Sicherheit bezüglich der Ausgestaltung gerichtsfester Nebenbestimmungen für die Genehmigung und Errichtung von WEA zu führen. Sie gibt Antragstellern sowie Behörden durch die Klärung der Anwendungsmöglichkeiten des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG konkrete Hilfestellungen für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 44 Abs. 1, 5 BNatSchG.
Außerdem macht das Gericht durch die Aussage, dass nach dem Ausnahmegrund des § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG i.V.m. § 45b Abs. 8 Nr. 1 BNatSchG der Betrieb von WEA der öffentlichen Sicherheit diene, die überragende Wichtigkeit des schnellen Gelingens der Energiewende noch einmal deutlich. Dabei verliert es die arten-, insbesondere vogelschützenden Ver- und Gebote nicht aus dem Blick und zeigt vielmehr auf, wie unter Zuhilfenahme des Instruments der Nebenbestimmungen ein möglichst schonender Ausgleich gelingen kann.



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