Pflichtverteidigung bei drohender Einziehung des Wertes von Taterträgen in erheblicher HöheOrientierungssatz zur Anmerkung Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbeiordnung bei drohender Einziehung - A.
Problemstellung Das Recht der Pflichtverteidigung hat in den vergangenen Jahren einige Änderungen erfahren, insbesondere durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.10.2019. Grobes Ziel der im Wesentlichen auf die Umsetzung von EU-Vorgaben zurückzuführenden Reform ist die Ausweitung der Fälle notwendiger Verteidigung. Zu vielen Einzelfragen der neuen Rechtslage liegen bereits Entscheidungen vor, das OLG Bremen befasst sich in der zu besprechenden Entscheidung nun mit der Frage der Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei drohender Einziehung als Fall der im Jahr 2019 in § 140 Abs. 2 StPO aufgenommenen Variante „der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der zugrunde liegende Fall dürfte durchaus als alltäglich bezeichnet werden. Ein – durch einen Wahlverteidiger verteidigter – Angeklagter wurde erstinstanzlich wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt, des Weiteren ordnete das Amtsgericht gegen ihn die Einziehung des Wertes des Taterlangten i.H.v. 73.378 Euro an. Die Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht als unbegründet, hiergegen legte der Verteidiger Revision ein und beantragte zugleich seine Beiordnung als Pflichtverteidiger für das Revisionsverfahren. Die Vorsitzende der Berufungskammer lehnte dies ab, da die im Raum stehende Einziehungsentscheidung einer Parallelwertung in der Laiensphäre unproblematisch zugänglich sei. Die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage lasse die Mitwirkung eines Verteidigers nicht gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten erscheinen. Gegen diesen Beschluss wandte sich der Angeklagte mit der Begründung, das Einziehungsrecht werfe schwierige Rechtsfragen auf, die er auch mit Unterstützung eines Rechtspflegers gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b RpflG nicht adäquat erfassen könne. Der Senat hob – in Übereinstimmung mit dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft – die Entscheidung der Kammervorsitzenden auf und ordnete dem Angeklagten für das Revisionsverfahren einen Pflichtverteidiger bei. Nach Ansicht des OLG Bremen lagen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor. Das Gericht stellte dabei auf das durch die Reform 2019 in § 140 Abs. 2 StPO aufgenommene Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ab. Die drohende Rechtsfolge war auch schon nach dem früheren Wortlaut unter den Begriff der Schwere der Tat gefasst worden, daher gelten auch die bisherigen Entscheidungen fort. Im Wege einer Gesamtbewertung sind neben einer drohenden Strafe dabei auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, insbesondere eine Einziehungsentscheidung. Die Einziehungsentscheidung in der bereits ausgeurteilten Höhe betraf den zu einem Stundenlohn von 13,50 Euro beschäftigten Angeklagten besonders schwer, da ihn die Begleichung einer Forderung i.H.v. mehr als 70.000 Euro über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte tangieren würde.
- C.
Kontext der Entscheidung Der seit den Änderungen im Jahr 2019 modifizierte Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO betont die Bedeutung der zu erwartenden Rechtsfolgen für die Entscheidung über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung zieht das OLG Bremen zum Verständnis dabei auch die zur früheren Rechtslage ergangenen Entscheidungen heran, die unter dem Aspekt der Schwere der Tat bereits die Rechtsfolgen zentral in den Blick genommen hatten. Überzeugend legt der Senat dar, dass auch die Einziehung als Maßnahme i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB eine zu berücksichtigende sonstige Rechtsfolge ist. Die im zu entscheidenden Fall mögliche beträchtlich lange Dauer der Betroffenheit über einen Zeitraum, in dem eine verhängte Strafe evtl. schon getilgt worden wäre, zeigt die Relevanz der Einziehung klar auf. Hier wirkt sich aus, dass nach dem – in 2017 ebenfalls reformierten – Abschöpfungsrecht die Berücksichtigung etwaiger unbilliger Härten nicht mehr im Erkenntnisverfahren erfolgt. Eine Anpassung der zu vollstreckenden Beträge, auch an die realistische Leistungsfähigkeit eines Angeklagten, kann erst im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens und dann auch nur in den engen Grenzen des § 459g StPO erfolgen. Auch aus diesem Grund kommt einer umfassenden Beratung durch einen Verteidiger, etwa auch zu den Möglichkeiten einer vergleichsweisen Einigung mit Verletzten und dem dadurch bedingten Ausschluss der Einziehung gemäß § 73e Abs. 1 StGB, eine besondere Bedeutung zu. Die bloße Unterstützung durch einen Rechtspfleger bei der Aufnahme von Erklärungen gemäß § 24 RpflG kann eine Pflichtverteidigung im Revisionsverfahren nicht entbehrlich machen. Obwohl sich die Ausführungen des OLG Bremen konkret auf ein Revisionsverfahren beziehen, dürften die zugrunde liegenden Erwägungen auch auf andere Verfahrensstadien übertragbar sein.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die Entscheidung zeigt, dass mögliche Einziehungsfragen schon früh in den Blick zu nehmen und auch auf ihre Relevanz für § 140 Abs. 2 StPO hin zu überprüfen sind. Es dürfte keine starren Grenzen dafür geben, ab welchem drohenden Einziehungsbetrag eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen ist. Die mögliche Belastung eines Betroffenen über Jahrzehnte sollte aber ein sicheres Indiz darstellen. Dabei dürfte auch die wachsende Wahrscheinlichkeit der Einziehungsanordnung im Verlauf eines Verfahrens zu berücksichtigen sein. Werden mit Anklageerhebung aus Sicht der Staatsanwaltschaft die Voraussetzungen einer Einziehung angenommen und konkrete Summen beziffert, kann spätestens mit der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Gericht von einer konkret drohenden Einziehung ausgegangen werden. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann auch schon im Ermittlungsverfahren aus Gründen der Einziehung eine Pflichtverteidigerbeiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO in Betracht kommen. Dies aber weniger unter dem Gesichtspunkt der Schwere der zu diesem Zeitpunkt oft nur abstrakt zu bewertenden Rechtsfolgen, dafür eher in Fällen ausgebrachter Vermögenssicherungsmaßnahmen bei hohen Sicherungssummen unter dem Aspekt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage. Ist eine rechtskräftige Einziehungsentscheidung ergangen, kommt bei Vorliegen der in der Entscheidung des OLG Bremen aufgezeigten Voraussetzungen einer jahrzehntelangen Betroffenheit schließlich auch eine Pflichtverteidigung im Vollstreckungsverfahren zur Mitwirkung bei einer Entscheidung gemäß § 459g Abs. 4 und Abs. 5 StPO in Betracht. Nicht unmittelbar übertragbar dürfte die Entscheidung auf die Beiordnung eines Rechtsanwalts für Einziehungsbeteiligte i.S.d. § 424 Abs. 1 StPO sein, da die insoweit relevante Verweisungsvorschrift des § 428 Abs. 1 StPO nicht auch § 140 StPO für anwendbar erklärt. Allerdings eröffnet § 428 Abs. 2 StPO als Sondervorschrift für das gerichtliche Verfahren – wegen § 428 Abs. 3 StPO ist das Ermittlungsverfahren ausgenommen – die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts. Eine Beiordnung kommt hier zwar nicht wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen in Betracht, bei drohender schwerwiegender Beeinträchtigung durch eine Einziehung dürfte aber wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Beiordnung zu erwägen sein. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeentscheidung i.S.d. Angeklagten diesem im Übrigen wohl nicht weiterhelfen können, die Revision ist durch das OLG Bremen als offensichtlich unbegründet verworfen worden.
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