Kontext der Entscheidung
Die organisierte Hinterziehung von Umsatzsteuer findet regelmäßig im grenzüberschreitenden innereuropäischen Waren- und Dienstleistungsverkehr statt. Eine Vielzahl möglicher Fallkonstellationen wird dabei in der Rechtsprechung der nationalen und der europäischen Gerichte den Begriffen des Umsatzsteuerkarussells oder, etwas weiter gehend, dem Begriff des Systems der organisierten Mehrwertsteuerhinterziehung zugeordnet. Während die steuerstrafrechtliche Behandlung der für den sog. Missing Trader handelnden Personen keine besonderen Probleme verursacht, stellt sich die Situation aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden, der Gerichte und der Verteidigung für den Unternehmer anders dar, der innerhalb einer Handelskette, die einen Missing Trader enthält, tatsächlich Waren oder Dienstleistungen bezieht, sich selbst steuerlich unauffällig verhält und unter Berücksichtigung formell ordnungsgemäßer Rechnungen einen Anspruch auf Erstattung der Vorsteuer nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG geltend macht (sog. Buffer). Er wird regelmäßig argumentieren, dass ihn die steuerlichen Angelegenheiten des Missing Traders nicht weiter interessieren müssen. Seit langem ist indes in der steuerstrafrechtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass der Anspruch auf Erstattung der Vorsteuer nicht geltend gemacht werden darf, wenn der Erwerber wusste, dass er in ein System der organisierten Mehrwertsteuerhinterziehung eingebunden ist.
Der BGH bezieht sich hier auf die sog. Missbrauchsrechtsprechung des EuGH, die sogar bei fahrlässiger Unkenntnis („hätte wissen müssen“) den Vorsteuerabzug versagt. Hier stellen sich aus strafrechtsdogmatischer Sicht verschiedene Fragen:
In einem ersten Schritt stellt sich die (u.E. bislang noch nicht ausreichend beachtete) Frage, unter welchen Voraussetzungen objektiv überhaupt von einer „Einbindung“ in ein Betrugssystem gesprochen werden kann, so dass der Anwendungsbereich der Missbrauchsklausel eröffnet ist. Für einen Buffer, der von den Hintermännern in der Weise gesteuert wird, dass ihm Preis und Handelspartner vorgegeben werden, mag die Einbindung in ein „hermetisches“ Betrugssystem ja noch problemlos angenommen werden. Erheblich schwieriger sind hingegen die praktisch durchaus relevanten Fälle zu beurteilen, in denen ein etabliertes Unternehmen, das regulär am Markt tätig ist und mit einer Vielzahl von Marktteilnehmern Handelsgeschäfte tätigt, mit einer Umsatzsteuerbetrugskette in Berührung kommt. Hier stellt sich – bildlich gesprochen – die Frage, ob ein solches Unternehmen noch in oder schon außerhalb der Betrugskette steht. Nach Ansicht der Autoren sind konkrete Kriterien zu entwickeln, anhand derer dies zu bestimmen ist.
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass für Fälle bis zum 01.01.2020 die den Erlaubnissatz des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG einschränkende Auslegung durch die Rechtsprechung nicht mehr mit dem Verbot der strafbarkeitsbegründenden teleologischen Reduktion des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren ist.
Zudem stellt sich weiterhin die in der Rechtsprechung noch nicht eindeutig beantwortete Frage, ob und inwieweit die fahrlässige Unkenntnis ausreichend sein kann, um einen steuerstrafrechtlichen Vorwurf zu begründen. Hierzu im Einzelnen:
In den Altfällen stellt sich mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG die Frage, ob die Anwendung der Missbrauchsrechtsprechung eine strafbegründende richterrechtliche Rechtsfortbildung darstellt und damit verboten ist, so dass es bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG im Strafverfahren nicht mehr darauf ankommt, ob die Voraussetzungen der Missbrauchsrechtsprechung vorliegen.
Der 1. Strafsenat des BGH hatte sich 2011 mit dieser Frage beschäftigt und sie verneint (BGH, Beschl. v. 08.02.2011 - 1 StR 24/10). Zur Begründung hatte der Senat angeführt, dass derjenige, der in Kenntnis seiner Einbindung in ein System des organisierten Mehrwertsteuerbetrugs Vorsteueransprüche geltend mache, nicht als Unternehmer i.S.d. §§ 15 UStG, 2 UStG anzusehen sei. Dogmatisch war dieser Ansatz – jedenfalls bis zur Einführung des § 25f UStG – auch die einzige Möglichkeit, unter Beachtung der Wortlautgrenze die Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG zu verneinen.
Bereits kurze Zeit nach der Entscheidung aus 2011 änderte der BGH sowie der BFH in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. hierzu nur EuGH v. 12.01.2006 C-354/03 „Optigen“ - UR 2006, 157) seine Rechtsauffassung. Mit Blick auf die unionsrechtliche Systematik, wonach die Unternehmereigenschaft rein objektiv zu bestimmen ist, bejaht die Rechtsprechung nunmehr auch in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige ggf. in die Steuerhinterziehungen eines Dritten eingebunden ist, dessen Unternehmereigenschaft. Auch der 1. Strafsenat hat seine entgegenstehende Rechtsprechung zum Unternehmerbegriff mit Urteil vom 09.04.2013 (1 StR 586/12) aufgegeben. In der Literatur wird das Urteil ebenfalls als Rechtsprechungsänderung gewertet (Jäger in: Klein, AO, 15. Auflage 2020, § 370 Rn. 370c; Kaiser, DStR 2013, 1185, 1186; Madauß, NZWiSt 2015, 417; Kaiser/Hummel, PStR 2015, 265). Dieses Verständnis ist seitdem ständige Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 08.07.2014 - 1 StR 29/14; BGH, Beschl. v. 06.02.2014 - 1 StR 577/13; BGH, Beschl. v. 29.01.2014 - 1 StR 469/13). Soweit danach ein Vorsteuerabzug versagt werden soll, beruft sich der 1. Strafsenat dann auch nicht mehr auf die angeblich fehlende Eigenschaft als Unternehmer, sondern unmittelbar auf die Missbrauchsrechtsprechung des EuGH (BGH, Urt. v. 15.05.2018 - 1 StR 159/17 Rn. 192 f.; BGH, Beschl. v. 05.02.2014 - 1 StR 422/13 Rn. 14; BGH, Beschl. v. 01.10.2013 - 1 StR 312/13 Rn. 17). Hierbei wird allerdings auf die in der Entscheidung aus 2011 aufgeworfene verfassungsrechtliche Thematik gerade nicht mehr eingegangen. Auch die ständige Rechtsprechung des BFH geht im Übrigen bei Einbindungen in rechtswidrige oder strafbare Aktivitäten davon aus, dass dies die Eigenschaft als Unternehmer im Sinne des Umsatzsteuerrechts unberührt lässt (vgl. nur BFH, Urt. v. 12.05.2011 - V R 25/10 - BFH/NV 2011, 1541; BFH, Urt. v. 07.07.2005 - V R 60/03 - BFH/NV 2006, 139; BFH, Urt. v. 26.06.2003 - V R 22/02 - BFH/NV 2004, 233). Schließlich geht der Gesetzgeber selbst eindeutig davon aus, dass die Unternehmereigenschaft nicht durch die Einbindung in ein Umsatzsteuerkettengeschäft oder -karussell entfällt. Dies ergibt sich aus § 25f UStG, der für die Anwendung der mit dieser Vorschrift kodifizierten Missbrauchsrechtsprechung die Eigenschaft als Unternehmer gerade voraussetzt.
Damit stellt sich für die Altfälle die Frage, ob trotz der Anerkennung der Unternehmereigenschaft eine strafbewehrte Versagung des Rechts zum Vorsteuerabzug mit Art. 103 Abs. 2 GG in Übereinstimmung zu bringen ist. Ausdrücklich hat sich der 1. Strafsenat noch nicht mit dieser Frage befasst.
Unter Beachtung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze verstößt die Anwendung der Missbrauchsrechtsprechung gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wenn der die Vorsteuer geltend machende Steuerpflichtige Unternehmer ist. Die gebotene europarechtsfreundliche Auslegung, die für eine strafbewehrte Einschränkung des Rechts zum Vorsteuerabzug sprechen könnte, findet ihre Grenze nämlich dort, wo sie das verfassungsrechtlich garantierte Gesetzlichkeitsprinzip verletzten würde. Die Rechtsprechung darf strafbarkeitsausschließende Tatbestände nicht einschränken, indem sie an Stelle des Gesetzgebers Regelungen trifft (BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 16.06.2011 - 2 BvR 542/09 Rn. 57 f.). Der Fall des möglicherweise missbräuchlichen Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG ist auch nicht mit dem Fall der Verschleierung des Abnehmers bei innergemeinschaftlichen Lieferungen nach § 6a UStG vergleichbar (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 16.06.2011 - 2 BvR 542/09). Denn in diesen Fällen muss der Umsatz nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG im anderen Mitgliedstaat der Umsatzbesteuerung unterliegen. Es ist, wie das BVerfG ausführt, gerade noch mit dem Wortlaut der Vorschrift in Übereinstimmung zu bringen, die Merkmale „der Umsatzbesteuerung unterliegen“ nicht rechtlich, sondern faktisch zu verstehen (BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 16.06.2011 - 2 BvR 542/09 Rn. 60 ff.). Genau darin unterscheidet sich der Fall des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG. Diese Vorschrift enthält – abgesehen von dem Begriff des Unternehmers – keine Formulierung, die eine Anwendung der Missbrauchsrechtsprechung des EuGH eröffnet. Dies erkennt letztlich auch der Gesetzgeber selbst an, der in der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 25f UStG darauf verweist, dass diese Vorschrift auch der Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes diene (
BT-Drs. 19/13436, S. 161). Aus alledem folgt, dass – nachdem sich die Versagung des Vorsteuerabzugs gerade nicht an einem Wegfall der Unternehmereigenschaft festmachen lässt – der Bestimmtheitsgrundsatz jedenfalls in Bezug auf Altfälle verletzt ist.
Für die Neufälle verbleit weiterhin die Frage, ob auch die fahrlässige Unkenntnis von der Einbindung in ein System der Mehrwertsteuerhinterziehung – neben den damit verbundenen steuerlichen Folgen – den Vorwurf einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung begründen kann oder es ggf. bei der Ordnungswidrigkeit des § 378 AO bleibt. Letzteres ist richtigerweise der Fall. Die Bezugnahme auf die fahrlässige Unkenntnis in der Rechtsprechung des EuGH, die in den Obersätzen des BGH und nun in § 25f UStG Niederschlag gefunden hat, vermag nichts daran zu ändern, dass die fahrlässige Unkenntnis denknotwendig impliziert, dass der den Vorsteueranspruch geltend machende Täter gerade nicht gemäß § 15 StGB vorsätzlich handelt. Wer nicht ernsthaft und konkret für möglich hält, dass er in ein System des Umsatzsteuerbetruges eingebunden ist, irrt sich im Sinne der Steueranspruchstheorie über sein Recht zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG. Ihm fehlt daher bereits die Vorstellung, den tatbestandsmäßigen Erfolg einer Steuerverkürzung herbeizuführen. Auch geht er gerade nicht davon aus, unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen zu machen. Jede andere Auslegung hätte zur Folge, dass § 25f UStG zu einer Veränderung der Deliktsstruktur des § 370 AO führte, indem für bestimmte Fälle der Umsatzsteuerhinterziehung aus einem reinen Vorsatzdelikt eine Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination werden würde. Dies kann aber durch die bloße Hinzufügung einer Vorschrift im UStG nicht erreicht werden, sondern setzt eine Änderung des § 370 AO selbst voraus.