Sperrwirkung einer negativen arzneimittelrechtlichen BewertungOrientierungssatz zur Anmerkung Ist auf eine beantragte Zulassungserweiterung eines Arzneimittels eine ablehnende Entscheidung der Zulassungsbehörde ergangen oder hat der Hersteller nach einer negativen Bewertung des Antrags diesen nicht weiterverfolgt, entfaltet diese negative arzneimittelrechtliche Bewertung eine Sperrwirkung für die Bejahung hinreichender Aussichten auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf i.S.d. § 2 Abs. 1a SGB V. - A.
Problemstellung Im Rahmen des § 2 Abs. 1a SGB V bzw. der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts kommt auch die Versorgung mit einem nicht für die betreffende Indikation zugelassenen Arzneimittel in Betracht. Allerdings soll nach der Rechtsprechung des BSG ein Versorgungsanspruch ausscheiden, wenn die Zulassung für die fragliche Indikation förmlich abgelehnt worden ist oder der Hersteller seinen Zulassungsantrag wegen drohender Ablehnung nicht weiterverfolgt. Die negative arzneimittelrechtliche Bewertung soll eine Sperrwirkung für die Bejahung der hinreichenden Erfolgsaussicht der Behandlung haben (BSG, Urt. v. 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R; BSG, Urt. v. 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R). Da das LSG Mainz abweichend trotz abgelehnter Zulassungserweiterung einen Leistungsanspruch bejaht hatte, musste das BSG entscheiden, ob es an seiner Ansicht festhält.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der im Jahr 2004 geborene Versicherte (Kläger) ist infolge einer sog. Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens an einer Duchenne-Muskeldystrophie (nmDMD) erkrankt; er ist seit 2015 auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Juli 2019 beantragte er die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna (Wirkstoff Ataluren). Dieses Medikament ist in der Europäischen Union seit Juli 2014 als „Orphan Drug“ zur Behandlung der nmDMD bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei Jahren zugelassen. Ein bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) gestellter Antrag des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung auf Patienten, die nicht mehr gehfähig sind, wurde durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) in einem Gutachten vom 28.06.2019 negativ bewertet. Auch ein Überprüfungsantrag des Herstellers wurde am 17.10.2019 ablehnend begutachtet; der Hersteller verfolgte danach die Indikationserweiterung nicht weiter. Die vom Hersteller vorgelegten Studien wurden nicht für ausreichend aussagekräftig gehalten, um ein Überwiegen des Nutzens gegenüber den Risiken auch bei nicht gehfähigen Patienten zu belegen. Aufgrund einer Empfehlung des CHMP vom 25.06.2020 erfolgte im Juli 2020 aus der Fachinformation für Translarna die Streichung der Aussage „Bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen“. Diese Streichung hebe die Zulassungsbeschränkung nicht auf. Die aktuell zugelassene therapeutische Indikation bleibe die gleiche, da die Nutzen-Risiko-Bilanz von Translarna weiterhin nur bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei Jahren positiv sei. Laut einer Pressemitteilung des Herstellers soll die Anpassung im Zulassungstext es den behandelnden Ärzten ermöglichen, aufgrund ihrer klinischen Bewertung über ihre Weiterbehandlung ihrer Patienten zu entscheiden, die unter Translarna ihre Gehfähigkeit verloren hätten. Die beklagte Krankenkasse holte eine Stellungnahme des MDK ein, der darauf hinwies, nach Daten aus der Literatur bestehe bei dem jetzigen Alter des Klägers noch eine Lebenserwartung von sechs Jahren bzw. bei späterer Beatmung von zwölf Jahren. Es fehle an einer Datenlage, die einen Effekt der Behandlung an nicht gehfähigen Patienten bzw. auf die kardiale oder pulmonale Funktion zeige. Die im Antrag geäußerten pathophysiologischen Überlegungen und die dort angeführte, mit starken Mängeln behaftete Datenlage würde wohl den Anforderungen der Rechtsprechung zur Datenlage genügen, wenn das Lebensende ganz nahe bevorstehe. So liege es bei der hier vorliegenden Lebenserwartung jedoch nicht. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag ab (Bescheid vom 01.08.2019; Widerspruchsbescheid vom 28.01.2020). Das Sozialgericht wies die Klage gestützt auf die Rechtsprechung des BSG zur Sperrwirkung eines erfolglosen Zulassungsantrags ab. Das LSG verurteilte die Bekl. zur Gewährung des Arzneimittels. Der Kläger habe einen sich aus § 2 Abs. 1a SGB V ergebenden Versorgungsanspruch, dem die Ablehnung der Zulassungserweiterung nicht entgegenstehe. Sie entfalte keine Sperrwirkung, da die Zulassungserweiterung allein wegen einer nicht ausreichenden Datenlage und nicht wegen einer negativen Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses abgelehnt worden sei und die weitere wissenschaftliche Erforschung neue Erkenntnisse für die Wirksamkeit erbracht hätten. Das BSG hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung gegen die Entscheidung des Sozialgerichts zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna. Eine Leistungspflicht aus § 31 Abs. 1 SGB V bestehe mangels Zulassung für nicht gehfähige Patienten nicht und auch die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nach § 35c SGB V oder nach den allgemeinen Grundsätzen liegen nicht vor. Ebenso wenig könne der Kläger die Versorgung nach dem allein in Betracht kommenden § 2 Abs. 1a SGB V beanspruchen. Nach dieser Vorschrift bestehe bei einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehe, ein Anspruch auf vom Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistungen, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe. Der Kläger leide allerdings an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung. Hierfür genüge zwar nicht, dass die Krankheit unbehandelt zum Tode führe, sie müsse vielmehr trotz der in der GKV regulär bestehenden Behandlungsmöglichkeiten lebensbedrohlich sein. Es müsse nach den konkreten Umständen des Falles eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage vorliegen, die durch die Gefahr geprägt sei, dass die betreffende Krankheit in überschaubarer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben beenden könne, so dass Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen. Für den Kläger bestehe schon jetzt eine notstandsähnliche Situation, weil die nmDMD unheilbar sei und rasch voranschreite. Je später eine möglicherweise wirksame Behandlung erfolge, desto geringer seien die Chancen einer zusätzlichen Lebensverlängerung. Das Landessozialgericht sei gestützt auf eine Expertenempfehlung davon ausgegangen, dass zur Behandlung der nmDMD keine allgemein anerkannte Leistung zur Verfügung stehe. In der Expertenempfehlung werde eine Standardtherapie der DMD in Form eines interdisziplinären Therapiekonzepts beschrieben. Das Landessozialgericht habe keine Feststellung dazu getroffen, auf welches konkretes Behandlungsziel und welchen über die in der Expertenempfehlung genannten Ergebnisse hinausgehenden Zusatznutzen sich das Fehlen einer Standardtherapie beziehe. Letztlich könne dies offenbleiben, weil es jedenfalls an der hinreichenden Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf fehle. An dieser Voraussetzung des § 2 Abs 1a SGB V fehle es, wenn auf eine beantragte Zulassungserweiterung eine ablehnende Entscheidung der arzneimittelrechtlichen Zulassungsbehörde ergangen sei. Gleichgestellt sei dem die Situation, dass eine negative Prüfung durch die EMA – hier: den CHMP – erfolgt sei und der Hersteller seinen Zulassungsantrag daraufhin nicht mehr weiterverfolge. Der Senat gehe insoweit von der Sperrwirkung einer negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung für die Bejahung der hinreichenden Erfolgsaussicht i.S.d. § 2 Abs. 1a SGB V aus. Das BSG legt dar, dass grundsätzlich für die Anforderungen an die Erfolgsaussicht einer Behandlung ein sich an der Krankheitssituation ausrichtender Wahrscheinlichkeitsmaßstab gelte und Differenzierungen im Sinne der Geltung abgestufter Evidenzgrade nach dem Grundsatz vorzunehmen seien „je schwerwiegender die Erkrankung und ‚hoffnungsloser‘ die Situation, desto geringere Anforderungen sind an die ‚ernsthaften Hinweise‘ auf einen nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg zu stellen“. Bei dieser Beurteilung können auch Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Experten, Konsensuskonferenzen und Berichte von Expertenkomitees berücksichtigt werden. Diese nach dem allgemeinen Prüfungsmaßstab grundsätzlich ausreichenden Erkenntnisgrundlagen genügen allein aber nicht mehr, um eine hinreichenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu begründen, wenn ein Arzneimittel bereits ein Zulassungsverfahren für die betreffende Indikation durchlaufen habe. § 2 Abs. 1a SGB V betreffe in Bezug auf Arzneimittel vor allem Fälle, in denen in einem frühen Stadium der Entwicklung zugelassener Fertigarzneimittel für neue Indikationsgebiete noch keine ausreichenden Erkenntnisse für die abschließende Bewertung des Nutzens und die erforderliche Chancen-Risiko-Abwägung hätten erlangt werden können. Sei aber bereits eine ablehnende Entscheidung der europäischen oder nationalen Arzneimittelzulassungsbehörde nach inhaltlicher Prüfung der vom Hersteller vorgelegten Unterlagen oder eine dieser gleichzustellende negative Bewertung durch die Zulassungsbehörde erfolgt, könnten diese Entscheidungen oder Bewertungen nicht mehr ausgeblendet werden und der Anspruch auf das Arzneimittel trotzdem mit abweichenden Einzelmeinungen begründet werden. Der Senat halte an seiner Rechtsprechung fest, obwohl die Prüfungsmaßstäbe des Arzneimittelrechts und des § 2 Abs 1a SGB V im Ansatz nicht völlig deckungsgleich seien. Dies betreffe insbesondere die Fälle, in denen die Zulassung eines Arzneimittels deshalb abgelehnt worden sei, weil der Hersteller keine aussagekräftigen Unterlagen vorgelegt habe. § 2 Abs. 1a SGB V verlange keinen Wirksamkeitsnachweis nach dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es sei nicht zu verkennen, dass die Annahme einer Sperrwirkung des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens in einem deutlichen Spannungsfeld dazu stehe. Trotz der nicht deckungsgleichen Prüfungsmaßstäbe gebe es „gewichtige Gründe“, an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten. Nach der Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 1a SGB V hätten die zuvor von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Umsetzung des Nikolaus-Beschluss des BVerfG unberührt bleiben sollen. Diese hätten auch die Sperrwirkung ablehnender arzneimittelrechtlicher Entscheidungen umfasst. Die arzneimittelrechtlichen Zulassungsvorschriften dienten der Erfüllung des Schutzauftrags aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, sie gewährleisteten Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der im Verkehr befindlichen und in den Verkehr zu bringenden Arzneimittel. Die Institutionalisierung des Zulassungsverfahrens und die hohe fachliche Expertise der Zulassungsbehörde böten dabei die Gewähr für eine unabhängige und wissenschaftlich fundierte Prüfung von Nutzen und Risiken. Diese Schutzpflichten sollten auch Versicherte davor bewahren, auf Kosten der GKV mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden. Es sei nicht zu erkennen, dass dieses Schutzkonzept gerade bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen nicht gelten sollte. Nähme man von der Sperrwirkung der fehlenden Arzneimittelzulassung bei § 2 Abs 1a SGB V zugunsten einer rein einzelfallbezogenen Prüfung Abstand, würde das Zulassungserfordernis für Arzneimittel zur Behandlung bestimmter, besonders schwerer Erkrankungen, faktisch ausgehebelt. Ferner verzichte die GKV auf eine eigene Qualitätssicherung im Bereich der Arzneimittel, weil mit der Zulassung ein eindeutiges Kriterium für die Verordnungsfähigkeit bestehe. Schließlich sei der arzneimittelrechtliche Evidenzmaßstab sowohl europarechtlich als auch nach dem AMG flexibel und ermögliche erleichterte Zulassungsmöglichkeiten und Ausnahmegenehmigungen für das Inverkehrbringen für bestimmte Arzneimittel. Das BSG nennt insoweit die bedingte Zulassung nach Art. 4 Abs. 1 EGV 507/2006, die außerordentliche Zulassung zur Schließung einer Versorgungslücke auch schon vor Vorliegen umfassender klinischer Daten (Art 14-a EGV 726/2004), die Ausnahmegenehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 14 Abs. 8 Satz 1 EGV 726/2004, das beschleunigte Beurteilungsverfahren nach Art. 14 Abs. 9 EGV 726/2004 und die Ausnahmemöglichkeit von der Zulassungspflicht im Rahmen von Härtefallprogrammen für Patienten, die an einer besonders schweren Erkrankung leiden und nicht mit einem zugelassenen Arzneimittel zufriedenstellend behandelt werden können (sog. Compassionate Use, § 21 Abs. 2 Nr. 3 AMG i.V.m. Art. 83 EGV 726/2004). Ferner gebe es für Zulassungsänderungen ein abgestuftes Änderungssystem. Zudem sei die Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses relativ. Es verlange eine Abwägung zwischen dem therapeutischen Nutzen des Arzneimittels und seiner – gewissen oder möglichen – Schädlichkeit. Es genüge, dass die Wirksamkeit im Verhältnis zur Bedeutung des Anwendungsgebietes stehe, und der Grad des vertretbaren Risikos hänge von dem konkreten Nutzen des fraglichen Arzneimittels ab. Die Sperrwirkung einer arzneimittelrechtlichen Bewertung beschränke sich in einem engen Anwendungsbereich auf Fälle, in denen bereits ein Antrag auf Zulassungserweiterung von der Zulassungsbehörde inhaltlich geprüft, aber abgelehnt worden sei. Soweit kein Antrag gestellt worden oder das Zulassungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, bleibe es bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V beim allgemeinen Maßstab. Die Sperrwirkung könne überwunden werden, wenn nach der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue Erkenntnisse gewonnen würden, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation – ggf. im Rahmen einer vereinfachten oder bedingten Zulassung – zugelassen werden könne. Diese Erkenntnisse müssen sich aber aus nach dem Abschluss des Zulassungsverfahrens veröffentlichten Studien ergeben, eine nur abweichende Bewertung der schon vorliegenden Unterlagen reiche nicht aus. Danach scheitere der Anspruch des Klägers aus § 2 Abs. 1a SGB V an der Sperrwirkung der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung. Es lägen auch keine Anhaltspunkte für nach Abschluss des Verfahrens veröffentlichte neue Erkenntnisse vor, die geeignet wären, die Zulassungserweiterung nach den genannten Zulassungsvoraussetzungen zu ermöglichen.
- C.
Kontext der Entscheidung 1. Mit dieser Entscheidung hält der 1. Senat des BSG an seiner Rechtsprechung fest, dass ein für die Indikation im konkreten Fall nicht zugelassenes Arzneimittel auch nicht in grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrecht (§ 2 Abs. 1a SGB V) beansprucht werden kann, wenn die Zulassung für diese Indikation entweder von der zuständigen Zulassungsbehörde abgelehnt worden ist oder nach einer negativen Beurteilung des Zulassungsantrags der Hersteller (um der zu erwartenden Ablehnung zuvorzukommen) seinen Antrag nicht weiterverfolgt. Das negative Ergebnis des Zulassungsverfahrens soll bedeuten, dass es damit an der hinreichenden Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf fehlt; es entfaltet insoweit eine Sperrwirkung. Der 1. Senat hatte in seinen Entscheidungen bislang ausschließlich darauf abgestellt, der Schutzzweck des Arzneimittelzulassungsrechts dürfte durch § 2 Abs. 1a SGB V nicht konterkariert werden. Das arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis diene dem Gesundheitsschutz, es dürfe nicht durch eine vermeintlich „großzügige“ Zuerkennung von Leistungsansprüchen faktisch unterlaufen werden. Er betonte das mit einem solchen Vorgehen verbundene Risiko von Gesundheitsschäden für die betroffenen Versicherten; der Versichertengemeinschaft könne die Finanzierung solcher Behandlungen durch zwangsweise erhobene Beiträge nicht zugemutet werden. Daher komme eine Ausweitung von Ansprüchen auf Arzneimittel, die dem Zulassungsstandard nicht entsprechen, nur in eng begrenzten Ausnahmefällen mit notstandsähnlichem Charakter in Betracht (BSG, Urt. v. 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R; BSG, Urt. v. 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R). Diese Argumentation blendete völlig aus, dass die Prüfungsmaßstäbe für die Zulassung nach dem Arzneimittelrecht und für eine grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts nicht deckungsgleich sind und blieb auch die Antwort schuldig, warum trotz dieser Bedeutung der Zulassung eines Arzneimittels gerade eine negative Entscheidung im Zulassungsverfahren eine Sperrwirkung entfalten soll, dagegen Arzneimittel, für die keine Zulassung für die betreffende Indikation beantragt worden ist, nach Maßgabe des § 2 Abs. 1a SGB V beansprucht werden können. Jedenfalls teilweise setzt der 1. Senat des BSG jetzt bei seiner Begründung neue Akzente. Er hält zwar an der bisherigen Rechtsprechung fest, konzediert nun aber, dass die Prüfungsmaßstäbe des Arzneimittelrechts und des § 2 Abs. 1a SGB V nicht „völlig“ deckungsgleich seien und räumt ein, es bestehe ein Spannungsfeld, wenn die Zulassung wegen nicht aussagekräftiger Unterlagen abgelehnt worden sei und diese Entscheidung Sperrwirkung entfalte, obwohl im Rahmen des § 2 Abs. 1a SGB V kein Wirksamkeitsnachweis nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft erforderlich sei. Er sieht aber weiterhin „gewichtige“ Gründe für das Festhalten an der Sperrwirkung einer Zulassungsentscheidung, wobei er wohl auch die Flexibilität des Arzneimittelrechts, auf bestimmte Notfallsituationen zu reagieren, und die Möglichkeit, mangelnde Datenlagen zu berücksichtigen, für bedeutsam hält. 2. Die vom 1. Senat des BSG angeführten Argumente für seine Ansicht können nicht überzeugen. Soweit er die Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 1a SGB V anführt und ausführt, die Vorschrift habe keine neuen Leistungen schaffen, sondern nur die vom BSG zur Umsetzung des Nikolaus-Beschlusses des BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 06.12.2005 - 1 BvR 347/98) entwickelten Grundsätze übernehmen wollen, ist seine Behauptung, auch die Sperrwirkung arzneimittelrechtlicher Entscheidungen sei bereits von dieser Rechtsprechung umfasst gewesen, kaum zutreffend. In der die Arzneimittelversorgung betreffenden „Tomudex“-Entscheidung des BSG war zwar verlangt worden, eine Versorgung dürfe nicht gegen das Arzneimittelrecht verstoßen (BSG, Urt. v. 04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R). Sie betraf ein nicht in der Bundesrepublik und auch nicht EU-weit zugelassenes Arzneimittel, das aber, wie das BSG ausführte, trotz der fehlenden inländischen Zulassung rechtmäßig nach § 73 Abs. 3 AMG importiert werden konnte. Dass das BSG in diesem Zusammenhang noch ausführte, die Zulassung im Inland sei weder förmlich abgelehnt noch eine Zulassung zurückgenommen worden, war im Grunde überflüssig; jedenfalls wird nicht deutlich gemacht, dass eine im Inland abgelehnte Zulassung trotz des § 73 Abs. 3 AMG einer Versorgung entgegengestanden hätte. Soweit ersichtlich, ist erstmals in dem Urteil des BSG vom 13.12.2016 (B 1 KR 10/16 R) dezidiert die Sperrwirkung einer negativen Zulassungsentscheidung ausgesprochen worden. Dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 2 Abs. 1a SGB V eine Rechtsprechung zur Vorgreiflichkeit einer negativen Zulassungsentscheidung billigen wollte, ist zudem vor dem Hintergrund unwahrscheinlich, dass er ausdrücklich der zuvor vom BSG für ärztliche Behandlungsmaßnahmen vertretenen Auffassung, nach einer negativen Entscheidung des G-BA im Rahmen des § 135 SGB V sei auch bei grundrechtskonformer Auslegung des Leistungsrechts kein Raum mehr für eine eigenständige Prüfung von Nutzen und Risiko der streitigen Behandlungsmethode (BSG, Urt. v. 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R „LITT“), widersprochen hatte; Ausschlussentscheidungen des G-BA verkürzten nicht den verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch ( BT-Drs. 17/6906, S. 52). Entsprechend kann kaum angenommen werden, er habe dagegen einer vergleichbaren Entscheidung der Arzneimittelzulassungsbehörde diese Bedeutung beimessen wollen. Auch der Verweis des BSG auf die Bedeutung des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens trägt nicht. Natürlich dient das Erfordernis der Zulassung dem Gesundheitsschutz und der Abwehr von Gefahren für Leib und Leben. Und ebenso ist richtig, dass die fachliche Expertise der Zulassungsbehörde eine besonders hohe Gewähr für eine wissenschaftlich fundierte Prüfung von Nutzen und Risiken eines Arzneimittels bietet. Insoweit kann die GKV auch auf eine eigene Qualitätssicherung verzichten, weil mit der Zulassung gewährleistet ist, dass das fragliche Arzneimittel verordnungsfähig ist. Wenn aber tatsächlich die inländische Zulassung von so überragender Bedeutung wäre, dürfte es überhaupt keine Versorgungsansprüche aufgrund grundrechtskonformer Auslegung für nicht zugelassene Arzneimittel geben. Es leuchtet nicht ein, warum ein Medikament, für das kein Zulassungsantrag gestellt worden ist, für das die Datenlage aus Sicht des Herstellers noch nicht einmal für einen Antrag ausreicht, ggf. beansprucht werden kann, ein gescheiterter Zulassungsantrag dagegen negativ vorgreiflich sein soll, wenn – wie das BSG jetzt selbst einräumt – die Prüfungsmaßstäbe nicht deckungsgleich sind. Dann kann eigentlich nichts anderes gelten als für ärztliche Behandlungsmethoden, für die der G-BA in seinen Beschlüssen vom 20.01.2011 (BAnz. 2011, Nr. 56 S. 1342) klargestellt hat, dass auch ausgeschlossene Methoden im Einzelfall nach Maßgabe des Nikolaus-Beschlusses beansprucht werden könnten, weil solche Einzelfälle nicht Gegenstand des Bewertungsverfahrens seien. Die Betonung der Bedeutung der Zulassung ist desto unverständlicher, als das BSG selbst darauf hinweist, dass seine Ansicht nur eine kleine Zahl von Fällen betrifft, in denen Zulassungsentscheidungen ergangen sind. Wenn aber bei fehlendem Antrag oder noch nicht abgeschlossenem Zulassungsverfahren eine eigenständige Prüfung der Voraussetzungen nach den Maßstäben des § 2 Abs. 1a SGB V stattzufinden hat, ist nicht mehr nachvollziehbar, warum das Zulassungserfordernis „faktisch ausgehebelt“ würde, wenn man nun auch bei Entscheidungen der Zulassungsbehörde eine eigenständige Prüfung von Nutzen und Risiken nach den Maßstäben der grundrechtskonformen Auslegung vornehmen würde, wobei selbstverständlich der Bewertung der Zulassungsbehörde eine wichtige indizielle Bedeutung beizumessen wäre (vgl. Plagemann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 2 Rn. 59, Stand: 15.06.2020). Von größerem Gewicht sind die Hinweise des BSG auf die Möglichkeiten des europäischen Arzneimittelzulassungsrechts, den Evidenzmaßstab flexibel zu handhaben und insbesondere zur Schließung von Versorgungslücken für seltene oder besonders schwerwiegende Erkrankungen erleichterte Zulassungen und Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Die vom BSG in den Vordergrund gestellte bedingte Zulassung nach Art. 4 Abs. 1 EGV 507/2006 setzt allerdings ebenso wie die außerordentliche Zulassung zur Schließung einer Versorgungslücke nach Art 14a EGV 726/2004 voraus, dass der Hersteller voraussichtlich in der Lage ist, umfassende Daten zur Verfügung zu stellen, was wohl nur anzunehmen ist, wenn schon weitere Studien laufen bzw. solche beabsichtigt sind. Die weiter genannte Ausnahme von der Zulassungspflicht bei einer Behandlung im Rahmen von Härtefallprogrammen (Compassionate Use) würde ohnehin einem Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V vorgehen (vgl. BT-Drs. 17/6906, S. 53). Auch mag die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses relativ sein und es der Zulassungsbehörde ermöglichen, das vertretbare Risiko im Vergleich mit dem konkreten therapeutischen Nutzen abzuwägen. Letztlich bleibt aber der entscheidende Einwand gegen die Ansicht des BSG, dass nicht sichergestellt ist, dass die Beurteilungsmaßstäbe der Zulassungsbehörde dem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab entsprechen. Die Behörde hat eine generelle Bewertung von Nutzen und Risiko zu treffen, während es bei der verfassungsrechtlichen Konkretisierung des Leistungsanspruchs um die Bewertung im Einzelfall geht und für die Anforderungen an die Erfolgsaussicht einer Behandlung ein sich an der individuellen Krankheitssituation ausrichtender Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Von daher kann notwendigerweise die Entscheidung der Zulassungsbehörde nie den konkreten Fall erfassen. Die Stellungnahme des MDK im vorliegenden Fall zeigt, dass durchaus nach den Maßstäben des § 2 Abs. 1a SGB V die Bejahung der hinreichenden Erfolgsaussicht in Betracht kam (jedenfalls unzutreffend war die Ansicht des MDK, dass die Datenlage nur bei nahem Lebensende ausreichend sei, denn tatsächlich bestand bereits eine notstandsähnliche Situation und es ging für den Kläger schon jetzt um einen Zugang zu einer möglicherweise wirksamen Behandlung). Die Annahme einer Sperrwirkung der Zulassungsentscheidung bedeutet auch für die betroffenen Versicherten, dass ihr verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine Leistung durch die Entscheidung einer Behörde bestimmt wird, an deren Verfahren sie nicht beteiligt waren und die sie nicht überprüfen können. 3. Eine Beendigung der Sperrwirkung wollte bislang der 1. Senat des BSG erst dann „erwägen“, wenn der Hersteller aufgrund neuer Erkenntnisse seinen Zulassungsantrag weiterverfolgt (BSG, Urt. v. 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R). Diesen Antrag verlangt er zwar nicht mehr, lässt aber auch keine eigenständige Prüfung der Erfolgsaussicht der Behandlung nach den allgemeinen Grundsätzen zu, sondern verlangt, dass die neuen Erkenntnisse erwarten lassen, dass die Zulassungserweiterung – ggf. unter erleichterten Voraussetzungen – erteilt werden kann. Das bedeutet, dass ein Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V auf das Arzneimittel nicht mehr nach Maßgabe der dort genannten Voraussetzungen für einen Erfolg der Anwendung besteht, sondern nur nach den für die Zulassung geltenden Maßstäben. Damit „blockiert“ ein einmal gestellter Zulassungsantrag auf Dauer die Anwendung des § 2 Abs. 1a SGB V. Sachliche Gründe hierfür sind nicht erkennbar, es ist nicht ersichtlich, warum eine Bewertung der neuen Erkenntnisse nicht ebenso nach dem Maßstab des § 2 Abs. 1a SGB V erfolgen soll wie die Bewertung von Erkenntnissen in den Fällen, in denen kein Zulassungsantrag gestellt worden war. Es ist schon zweifelhaft, ob überhaupt die Annahme einer Sperrwirkung der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung angesichts der nicht deckungsgleichen Prüfungsmaßstäbe für die Erfolgsaussicht einer Behandlung mit dem Nikolaus-Beschluss vereinbar ist. Diese Zweifel sind noch größer, wenn selbst bei Fehlen einer Bewertung der (neuen) Erkenntnisse durch die Fachbehörde nicht der allgemeine Prüfungsmaßstab und die für ihn grundsätzlich ausreichenden Erkenntnisgrundlagen gelten sollen, um eine hinreichende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu begründen.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Wie das BSG in dem Urteil klargestellt hat, entfällt nur bei einem abgeschlossenen Zulassungsverfahren die eigenständige Prüfung der Erfolgsaussicht der Behandlung mit dem nachgefragten Arzneimittel. Nachdem es nun seine Ansicht zur Sperrwirkung eines erfolglosen Zulassungsantrags bekräftigt hat, haben in solchen Fällen Anträge auf die Versorgung mit dem betroffenen Arzneimittel keine Aussicht auf Erfolg. Die Behauptung, dass in einer notstandsähnlichen Situation gleichwohl ein Leistungsanspruch in Betracht komme (so LSG Essen, Beschl. v. 04.08.2021 - L 5 KR 556/21 B ER), traf schon damals nicht zu und findet in dem aktuellen Urteil auch keine Stütze. Gleichzeitig gelten die Prüfungsmaßstäbe des § 2 Abs. 1a SGB V für die Erfolgsaussicht der Behandlung auch nicht mehr, wenn nach dem Zulassungsverfahren neue Erkenntnisse vorliegen, sondern die Prüfung richtet sich auf eine „fiktive“ (auch bedingte oder außerordentliche) Zulassung. Eine solche Zulassungsprüfung dürfte für die Sozialgerichte eine Herausforderung sein, da sie sich nun auch noch mit dem ihnen unbekannten arzneimittelrechtlichen Zulassungsrecht befassen müssen. In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird dies regelmäßig nicht zu leisten sei, was dann ggf. zu einer positiven Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung führen kann (vgl. LSG Schleswig, Beschl. v. 08.09.2021 - L 10 KR 94/21 B ER). Eine grundsätzliche Abkehr von der Sperrwirkung einer Zulassungsentscheidung wird nur eine (kaum zu erwartende) gesetzgeberische Korrektur oder eine Entscheidung des BVerfG auf eine Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kranken herbeiführen können.
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