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Anmerkung zu:BAG 8. Senat, Urteil vom 25.01.2024 - 8 AZR 318/22
Autor:Prof. Dr. Jacob Joussen
Erscheinungsdatum:17.04.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 9 AGG, § 15 AGG, § 164 SGB 9, § 7 AGG, § 1 AGG, Art 140 GG, Art 137 WRV, § 154 SGB 9, § 611a BGB, § 165 SGB 9, § 22 AGG, EGRL 78/2000
Fundstelle:jurisPR-ArbR 15/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Joussen, jurisPR-ArbR 15/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Kirchen als öffentliche Arbeitgeber i.S.d. SGB IX



Leitsatz

Eine kirchliche Körperschaft des öffentlichen Rechts ist nicht nach § 165 Satz 3 SGB IX zur Einladung schwerbehinderter Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch verpflichtet. Sie ist kein öffentlicher Arbeitgeber.



A.
Problemstellung
Das primär im AGG geregelte Diskriminierungsrecht betrifft alle Arbeitgeber, damit auch die Kirchen. Abgesehen von den hier nicht weiter zu verfolgenden Besonderheiten bei der Rechtfertigung, die sich aus § 9 AGG ergeben (dazu Joussen in: HdbStKR, 3. Aufl. 2020, § 57 Rn. 57 ff.), sind kirchliche Arbeitgeber gerade bezüglich der Diskriminierung aufgrund einer vorliegenden Schwerbehinderung in letzter Zeit immer wieder vor rechtliche Fragen gestellt worden (vgl. etwa zur Frage der Einladungspflicht eines Erzbistums bei digitalen Vorstellungsgesprächen LArbG Hamm, Urt. v. 21.07.2022 - 18 Sa 21/22).
Diesbezüglich ist beim Auswahlverfahren festzuhalten, dass alle Arbeitgeber nach § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX verpflichtet sind zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Menschen besetzt werden können. Das gilt auch für kirchliche Dienstgeber. Unabhängig von dieser allgemeinen Prüf- und Beteiligungspflicht stellt sich zusätzlich die Frage, ob der Arbeitgeber einen schwerbehinderten Bewerber auch zu einem Vorstellungsgespräch einladen muss. Hier regelt § 165 Sätze 3 und 4 SGB IX eindeutig, dass (nur) der „öffentliche Arbeitgeber“ (und nicht der private) schwerbehinderte Bewerber zum Vorstellungsgespräch einladen muss, sofern die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt (anders hingegen bei offensichtlich fehlender persönlicher Eignung vgl. BAG, Urt. v. 19.01.2023 - 8 AZR 438/21). Was aber ist ein „öffentliche Arbeitgeber“ im Sinne dieser Norm?
Dazu hatte 2020 eine Entscheidung des BAG Aufsehen erregt, in der es um die Einladungspflicht einer Landtagsfraktion ging (BAG, Urt. v. 16.05.2019 - 8 AZR 315/18). Diese Entscheidung befasste sich unter anderem mit der Frage, wen die Pflicht trifft, schwerbehinderte Bewerber einzuladen. Die Folge aus einem Verstoß gegen diese Einladungspflicht ist diskriminierungsrechtlich erheblich: Unterlässt ein öffentlicher Arbeitgeber die Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers, den er hätte einladen müssen, wird dies als Indiz i.S.v. § 22 AGG gewertet (BAG, Urt. v. 23.01.2020 - 8 AZR 484/18, gegen das LArbG Köln, das das Unterlassen der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch als Diskriminierung wertete, LArbG Köln, Urt. v. 23.08.2018 - 6 Sa 147/18).
Das Gesetz spricht in § 165 SGB IX ausdrücklich von den „besonderen Pflichten öffentlicher Arbeitgeber“. Zum Verständnis dieses Begriffs muss man auf die Definition des § 154 SGB IX zurückgreifen. In dessen Abs. 2 findet sich eine Aufzählung, die für Kirchen relevant ist: Nach § 154 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX gilt als öffentlicher Arbeitgeber an dieser Stelle „jede sonstige Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts.“ Daraus hatten viele in der Literatur bereits früh geschlussfolgert, dass die verfassten Kirchen unzweifelhaft von dieser Pflicht erfasst sind, also vor allem die Landeskirchen, die Diözesen und ihre jeweiligen Verwaltungen (vgl. nur Jabben in: BeckOK SozR, Stand: 01.12.2020, § 154 SGB IX Rn. 4; Neumann in: Neumann/Majerksi/Pahlen/Winkler/Jabben, SGB IX, 15. Aufl. 2024, § 154 Rn. 29).
Sicher nicht von dieser Norm erfasst hingegen sind Diakonie und Caritas als privatrechtliche Vereine. Das gilt sogar dann, wenn sie etwa den TVöD abgewandelt anwenden. Denn auch die Kirchen können, wie die staatliche Verwaltung (außerhalb des Bereichs der hoheitlichen Verwaltung), frei entscheiden, in welcher Rechtsform sie ihr Handeln organisieren. Unternehmen der öffentlichen Hand wie auch solche der Kirche, die privatrechtlich organisiert sind (etwa in der Rechtsform eines Vereins oder einer GmbH), sind private und nicht öffentliche Arbeitgeber i.S.d. § 154 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX (LArbG Köln, Urt. v. 12.05.2011 - 6 Sa 19/11). Und ein in privatrechtlicher Rechtsform organisierter Betrieb wird auch nicht dadurch zu einem öffentlichen Arbeitgeber, dass er etwa den TVöD anwendet oder dass Körperschaften des öffentlichen Rechts Allein- oder Mehrheitsgesellschafter sind (BAG, Urt. v. 15.11.2005 - 9 AZR 633/04; LArbG Köln, Urt. v. 12.05.2011 - 6 Sa 19/11; LArbG Hamm, Urt. v. 28.09.2010 - 9 Sa 865/10).
Das BAG hatte nun, nach einer zweitinstanzlichen Entscheidung des LArbG Mainz (Urt. v. 21.07.2022 - 5 Sa 10/22) zu genau dieser Frage Stellung zu nehmen, ob also Kirchen ein öffentlicher Arbeitgeber im Sinne der Einladungspflicht sind. Das Landesarbeitsgericht hatte bereits eine knappe und überraschende Antwort gegeben: „Die Evangelische Kirche, einschließlich ihrer Untergliederungen, ist kein öffentlicher Arbeitgeber i.S.d. § 165 Satz 3, § 154 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX.“ Und infolgedessen lautete Leitsatz 3 der Entscheidung auch konsequent: „Lädt ein Kirchenkreis der Evangelischen Kirche einen schwerbehinderten Bewerber nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein, kommt dem keine Indizwirkung i.S.v. § 22 AGG zu.“ Das BAG schloss sich dieser Einschätzung nun an.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger, der mit einem Grad der Behinderung von 60 schwerbehindert ist, macht gegen den Beklagten, einen evangelischen Kirchenkreis, Ansprüche auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend.
Im Frühjahr 2020 bewarb er sich unter Angabe seiner kaufmännischen Qualifikationen und seiner Schwerbehinderung auf eine von dem Beklagten ausgeschriebene Stelle in der Finanzbuchhaltung des Verwaltungsamts des Kirchenkreises. Einige Wochen später teilte der Beklagte, der den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, diesem mit, er habe sich aus Gründen besserer fachlicher Qualifikation für eine andere Bewerberin entschieden.
Der Kläger macht geltend, aufgrund seiner Eigenschaft als schwerbehinderte Person diskriminiert worden zu sein, wofür die unterbliebene Einladung zum Bewerbungsgespräch ein Indiz sei. Zu einer Einladung sei der Kirchenkreis als Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit als öffentlicher Arbeitgeber verpflichtet gewesen.
Das BAG hat wie die Vorinstanz einen Anspruch des Klägers verneint. Denn es sei von ihm nicht hinreichend dargelegt, dass die vorliegende Benachteiligung durch die Zurückweisung der Bewerbung i.S.v. § 164 Abs. 2 SGB IX i.V.m. den §§ 7 Abs. 1, 1 AGG „wegen seiner Schwerbehinderung“ erfolgt sei. Zwar genüge nach § 22 AGG, wenn er entsprechende Umstände darlegt, die eine Benachteiligung vermuten ließen. Das sei dem Kläger aber nicht gelungen. Insbesondere lasse die unterbliebene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung nicht vermuten.
Das BAG hält zwar daran fest, dass eine entgegen der Pflicht nach § 165 Satz 3 SGB IX ausbleibende Einladung zu einem Vorstellungsgespräch eine Vermutung nach § 22 AGG begründen könne (wie zuvor BAG, Urt. v. 19.01.2023 - 8 AZR 437/21). Eine solche Vermutung sei aber hier deshalb nicht begründet, weil die Beklagte bereits keine Pflicht nach § 165 Satz 3 SGB IX treffe. Sie sei kein öffentlicher Arbeitgeber im Sinne dieser Norm.
Zentral für die Entscheidung war die Auslegung des § 154 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX. Danach ist öffentlicher Arbeitgeber auch „jede sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Gegen zahlreiche Stimmen in der Literatur (Jabben in: BeckOK SozR, Stand: 01.09.2020, § 154 SGB IX Rn. 4; Joussen in: LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2022, § 154 Rn. 19; Ritz in: FRR, 7. Aufl. 2021, § 154 SGB IX Rn. 10), die der Senat auch anführt, sei die Norm dahin gehend auszulegen, dass als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasste kirchliche Untergliederungen hiervon nicht erfasst würden.
Zur Begründung seines Ansatzes zieht der Senat die Auslegungskriterien Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte heran. Der Wortlaut sei zwar undifferenziert und erfasse „jede“ Körperschaft. Aber das bedeute nicht zwangsläufig die Erstreckung auf kirchliche Gliederungen, die in der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts verfasst sind. Denn mit den Begriffen „Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts“ werde an das allgemeine verwaltungsrechtliche Begriffsverständnis angeknüpft, also an durch staatlichen Hoheitsakt geschaffene, rechtsfähige, mitgliedschaftlich verfasste Organisationen des öffentlichen Rechts, die regelmäßig staatliche Aufgaben mit in der Regel hoheitlichen Mitteln unter staatlicher Aufsicht wahrnehmen. Das seien Kirchen nicht, die sich grundlegend von staatlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts im verwaltungs- und staatsorganisationsrechtlichen Verständnis unterschieden. Sie nähmen insbesondere keine Staatsaufgaben wahr, seien nicht in die Staatsorganisation eingebunden und unterlägen keiner staatlichen Aufsicht. Die Möglichkeit der Organisation als Körperschaft des öffentlichen Rechts diene allein der Verwirklichung des durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen. Eine Gleichstellung sei aber nicht anzunehmen. Weltliche und kirchliche Körperschaften des öffentlichen Rechts seien vielmehr wegen ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Staat nicht vergleichbar.
Auch die Systematik lasse nicht auf eine Einbeziehung der kirchlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts schließen. Bei ihnen handle es sich um gänzlich anders ausgestaltete Organisationsformen, die gerade kein Teil der öffentlichen Verwaltung im Sinne der Regelungen zum SGB IX seien.
Des Weiteren verlange auch der Normzweck keine andere Betrachtung. Die Einbeziehung der kirchlichen Körperschaften sei zur Erreichung des Normzwecks – die Realisierung der teilhaberechtlichen Vorbildfunktion öffentlicher Arbeitgeber – nicht zwingend erforderlich. Auch private Arbeitgeber seien nicht von der Pflicht erfasst. Ausgehend vom dargelegten Verständnis des Begriffs „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ sei folglich nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber den Kirchen, die ebenso staatsfern wie private Arbeitgeber seien, verpflichtend eine Vorbildfunktion auferlegen wollte. Allein aus der Interessenlage der schwerbehinderten Menschen könne nicht auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers geschlossen werden.
In den Gesetzesmaterialien seien kirchliche Einrichtungen nicht erwähnt. Es sei daher nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber zu irgendeinem Zeitpunkt die kirchlichen Körperschaften im hier fraglichen Zusammenhang als öffentliche Arbeitgeber angesehen hätte.
Schließlich verstoße dieses Verständnis von § 165 Satz 3 SGB IX i.V.m. § 154 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX nicht gegen die Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG, auch könne sie nicht aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) hergeleitet werden. Insbesondere sei es nicht zwingend, Kirchen in positive Maßnahmen einzubeziehen.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des BAG ist überraschend und überzeugt nicht, auch wenn sie die klassischen Auslegungskriterien für ihre Begründung heranzieht. Es ist bereits auffallend, dass der Senat in der Entscheidung fortlaufend zahlreiche Stimmen in der Literatur als „andere Auffassung“ zitieren muss. Das macht deutlich, wie stark sein Bemühen ist, mit der Vorinstanz die Kirchen aus der Verpflichtung des § 165 SGB IX herauszuhalten – warum auch immer.
Die Rechtsprechung der Instanzen hatte sich in den vergangenen Jahren jedoch bereits in diese Richtung entwickelt. Neben der Vorinstanz zu der hier besprochenen Entscheidung hatte etwa auch das LArbG Hamm Zweifel an der Einordnung der verfassten Kirchen als öffentlich-rechtliche Körperschaften i.S.d. § 154 SGB IX geäußert (LArbG Hamm, Urt. v. 21.07.2022 - 18 Sa 21/22 Rn. 30, mit Verweis auf Glöckner, ZAT 2013, 49).
Wirklich stichhaltig ist die Argumentation des Achten Senats indes nicht. Zuzugeben ist ihm ohne Zweifel, dass das BAG unter Heranziehung der verschiedenen Auslegungskriterien sauber und nachvollziehbar argumentiert. Aber trotzdem fehlt im Ergebnis die Überzeugungskraft. Denn im Rahmen der entsprechenden Auslegungskriterien werden jeweils zentrale Aspekte in der Betrachtung nicht ausreichend in der Argumentation berücksichtigt.
Das Wortlautargument wird beispielsweise so genutzt, dass das eindeutige Verständnis des § 154 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX mit der undifferenzierten Legaldefinition etwas überraschend einschränkend wahrgenommen wird. Der Gesetzgeber hat eben gerade nicht differenziert – der Achte Senat tut es, ohne dass dies im Wortlaut eine Stütze finden würde. Wie der Senat argumentiert, ist insofern zwar durchaus nachvollziehbar. Er arbeitet heraus, dass es unterschiedliche „öffentliche Verwaltungen“ gibt. Die kirchliche sei eben etwas anderes als die weltliche Verwaltung. Aber darf er, so ist zu fragen, derart weitgehend in den gesetzgeberisch deutlich artikulierten Willen eingreifen? Es wäre dem Gesetzgeber doch ein Leichtes, seine Definition klar zu formulieren. Genau das erfolgt aber durch den Gesetzgeber an dieser Stelle nicht, wenn er undifferenziert „jede sonstige Körperschaft“ nennt. Er hat hier sogar nicht allein „jede Körperschaft“ genannt, sondern diese Formulierung durch die Verwendung des Begriffs „sonstige“ gesteigert. Das ist umfassend, deutlicher hätte er nicht werden lassen können, dass er keine Grenzen zieht.
Kann man den Wortlaut gleichwohl so verengend auslegen? Inhaltlich ist es zwar nicht abwegig. Der Senat versucht, wenn auch etwas bemüht, herauszuarbeiten, dass der Begriff „öffentliche Körperschaft“ nicht eindeutig sei. Daher geht er auf die weiteren Auslegungskriterien ein, um so seine verengende Wortlautauslegung zu untermauern. Auch bei diesen weiteren Kriterien finden sich dann zwar nachvollziehbare Argumente. Aber nachvollziehbar heißt eben noch nicht: überzeugend.
Vor allem bei der Systematik und beim Telos kommt viel zu kurz, was das eigentliche Ziel der hier betroffenen Normen des SGB IX ist. Es geht zwar auch um einen diskriminierungsrechtlich gebotenen Schutz, aber – und das ist vom BAG zu wenig gewichtet – gerade auch um Förderungskonzepte und Schutzmechanismen zugunsten schwerbehinderter Menschen andererseits. Denn Teil 3 des SGB IX bezweckt im Überschneidungsbereich von Sozial- und Arbeitsrecht insbesondere den Schutz schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben insgesamt (vgl. Waltermann/Schmitt/Chandna-Hoppe, Sozialrecht, 15. Aufl. 2022, Rn. 626). Es ist damit eben nicht allein das AGG betroffen, sondern auch das Gesetzgebungskonzept des SGB IX mit seinen Zielen, schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt angemessene Chancen zu eröffnen.
Dass der Senat dies sieht, macht er zwar in seinem Teil zum europäischen Recht deutlich. Er lässt auch erkennen, dass das Ziel des § 165 SGB IX sei, die öffentlichen Arbeitgeber als Vorbilder herauszustellen. Aber all das führt er nicht konsequent zu Ende. Zum einen ist festzustellen, dass infolge seiner Argumentation schwerbehinderte Beschäftigte – die sich bei einem verfasst-kirchlichen Arbeitgeber bewerben – nicht in dem Maße geschützt werden, wie es § 165 SGB IX in Verbindung mit dem klaren Wortlaut des § 154 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX ermöglicht. Dies unterläuft jedoch letztlich das dargestellte Telos der Norm.
Zum anderen würdigt der Senat nicht ausreichend, dass gerade im kirchlichen Raum ganz erhebliche Organisationsunterschiede bestehen. Landeskirchliche Stellen sind wie Diözesen und etwa deren Generalvikariate in ihrem Aufbau und ihrer Funktionsweise sehr wohl säkularen öffentlichen Arbeitgebern vergleichbar. Sie sind vor allem zu unterscheiden von den privatrechtlich tätigen Arbeitgebern und Unternehmen. Es ist insofern kein Zufall, dass Caritas und Diakonie als privatrechtliche Vereine agieren. Sie sollen eben nicht in das Korsett eines öffentlichen Verwaltungsträgers eingepasst sein. Der gesamte Aufbau der kirchlichen Organisationen ist insofern differenziert erfolgt: Auf der einen Seite stehen die privatrechtlich agierenden Hilfswerke, auf der anderen Seite die Kirchenorganisationen der verfassten Kirche, die bis zur Dienstherrenstellung in allem den anderen öffentlichen Körperschaften vergleichbar aufgebaut und strukturiert sind.
Es überrascht, dass der Achte Senat hier letztlich so funktionenorientiert denkt und argumentiert. Wäre das angezeigt, hätte er vermutlich Recht: Die Kirchen übernehmen keine Aufgaben der staatlichen öffentlichen Verwaltung. Aber darum geht es dem SGB IX nicht. Es geht nicht allein (um die geht es sicher auch, aber eben nicht nur) um eine Vorbildrolle des öffentlichen Arbeitgebers, sondern darum, in nicht privat agierenden Strukturen, wo ein Eingreifen des Gesetzgebers geringere Hürden nehmen muss, den Schutzlevel zugunsten von schwerbehinderten Menschen zu erhöhen. Das aber gilt im weltlichen wie im kirchlichen Bereich gleichermaßen.
Damit greift der Gesetzgeber auch nicht in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ein. Denn die Kirchen sind von der Anwendung der diskriminierungsrechtlichen Bestimmungen im SGB IX und AGG nicht ausgenommen. Soweit sie Arbeitsverhältnisse abschließen, müssen sie sich an diese Bestimmungen als Konsequenz ihrer Rechtswahl zugunsten von Verträgen nach § 611a BGB halten – wie jeder andere Arbeitgeber auch.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des BAG hat auf den ersten Blick weitreichende Folgen für die Praxis. Dass Kirchen auch in ihrer verfassten, öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstruktur nicht mehr als öffentlich-rechtliche Körperschaft im Sinne der Verpflichtung zur Einladung schwerbehinderter Menschen zu Vorstellungsgesprächen zählen sollen, führt dazu, dass aus einer Nichteinladung keine diskriminierungsrechtlichen Schlüsse mehr gezogen werden können. Da die Kirchen nach Meinung des BAG keine Pflicht aus § 165 Satz 3 SGB IX trifft, können sie diese nicht verletzen. Eine Nichteinladung ist damit kein Indiz i.S.d. § 22 AGG. Das klingt nach einem Freibrief für die verfassten Kirchen.
In der Praxis dürften die Auswirkungen jedoch (hoffentlich) auf wenige Einzelfälle beschränkt bleiben. Schon das BAG selbst verweist darauf, dass Kirchen im Regelfall besonderen Anforderungen gerecht werden wollen. Zwar sind entsprechende Verlautbarungen der Kirchen, wie etwa der Orientierungsrahmen zur Inklusion (Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln. Ein Orientierungsrahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie Deutschland. EKD-Texte 141, 2022), keine bindenden Rechtstexte, sie bewirken insbesondere keine Bindung der einzelnen Körperschaften unterhalb der EKD-Ebene im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens. Hier ist dem Senat uneingeschränkt zuzustimmen. Aber die in diesen Verlautbarungen enthaltenen Vorschläge weisen darauf hin, dass kirchliche Einrichtungen zumindest nicht diskriminierend handeln wollen. So wird im kirchenarbeitsrechtlichen Schrifttum darauf verwiesen, ungeachtet der vom BAG festgestellten Rechtslage sollte es gerade für kirchliche Arbeitgeber eine Selbstverständlichkeit sein, grundsätzlich geeignete schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber zu Vorstellungsgesprächen einzuladen und diesen eine Chance zu geben (Fey, ZMV 2024, 111).
Aber all das hilft dem schwerbehinderten Bewerber im Zweifelsfall nicht weiter. Das BAG hat dem Diskriminierungsrecht insofern nicht zur Durchsetzung auch in verfasstkirchlichen Einrichtungen verholfen.



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