juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BAG 5. Senat, Urteil vom 13.12.2023 - 5 AZR 137/23
Autor:Dr. Daniel Holler, RA
Erscheinungsdatum:24.04.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 3 EntgFG, § 7 EntgFG, § 5 EntgFG
Fundstelle:jurisPR-ArbR 16/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Holler, jurisPR-ArbR 16/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Zeitliche Koinzidenzen zwischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Arbeitgeberkündigung



Orientierungssatz zur Anmerkung

Der Beweiswert einer Erst- oder Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann auch dann erschüttert sein, wenn diese nach dem Zugang einer Kündigung zeitlich die Dauer der Kündigungsfrist umfasst und der gekündigte Arbeitnehmer unmittelbar nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.



A.
Problemstellung
Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist ein wichtiges Instrument der sozialen Absicherung. Leider wurde und wird die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Einzelfällen von Arbeitnehmern auch als Instrument missbraucht, um ihren Unmut über Arbeitgebermaßnahmen besonders Ausdruck zu verleihen. Fast schon klassisch sind hier krankheitsbedingte Ausfälle, die „postwendend“ nach Ausspruch einer Kündigung, nach Mitteilung einer Nichtverlängerung des befristeten Arbeitsvertrags oder einer unliebsamen Arbeitgeberweisung erfolgen.
Bislang hatten Arbeitgeber dieser Praxis wenig entgegenzusetzen, wenn der Arbeitnehmer eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen konnte. Instanzgerichte haben in den letzten Jahren nicht selten bereits unter Hinweis auf die Existenz einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung jeden Zweifel an dem tatsächlichen Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit beiseite gewischt. Seit dem Urteil des BAG vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) vollzieht sich hier jedoch ein Rechtsprechungswandel, der durch das hier zu besprechende Urteil weiter konturiert wird.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger war seit März 2021 bei der Beklagten beschäftigt. Er reichte am 02.05.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 02.05.2022 bis zum 06.05.2022 (Freitag) ein. Am 02.05.2022 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.05.2022 mit Schreiben, das dem Kläger am 03.05.2022 zuging. Durch Folgebescheinigungen vom 06.05.2022 und vom 20.05.2022 wurde die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 20.05.2022 (Freitag) und bis zum 31.05.2022 (Dienstag) festgestellt. Ab dem 01.06.2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 02.05.2022 bis zum 31.05.2022 mit der Begründung, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Die Vorinstanzen haben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage für den gesamten Zeitraum stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte teilweise – bezogen auf den Zeitraum vom 07.05.2022 bis zum 31.05.2022 – Erfolg.
Zunächst fasst der Senat die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des Entgeltfortzahlungsanspruchs noch mal prägnant zusammen: Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung gemäß § 3 EFZG. Den Beweis der Arbeitsunfähigkeit kann der Arbeitnehmer im Regelfall jedoch mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erbringen, der nach der gesetzgeberischen Wertentscheidung in § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG und der Gesetzesbegründung zu § 5 Abs. 1a EFZG (BT-Drs. 19/13959, S. 37) ein hoher Beweiswert zukommt. Dem Arbeitgeber bleibt in diesem Fall nur, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch die Darlegung von tatsächlichen Umständen zu erschüttern, die Zweifel an der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit lassen. Eine solche Erschütterung kann sich aus dem Vortrag des Arbeitgebers, aus dem Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben. Gelingt es dem Arbeitgeber, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, liegt die Darlegungs- und Beweislast wieder beim Arbeitnehmer, der dann substanziiert vortragen muss, (1.) welche Krankheiten vorlagen, (2.) welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden und (3.) welche Verhaltensmaßnahmen und Medikamente ärztlich verordnet wurden. Er muss insofern laienhaft schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bestanden haben.
Eine hinreichende Grundlage für eine solche Erschütterung lag aus Sicht des Senats jedenfalls für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 06.05.2022 und vom 20.05.2022 vor. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen umfassten passgenau die Dauer der Kündigungsfrist, und der Kläger nahm unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung auf. Diese Gesamtschau führt dazu, dass ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Klägers bestehen. Grundlage für ernsthafte Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ist mithin, dass der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, zu dem feststeht, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, arbeitsunfähig wird und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – „passgenau“ – arbeitsunfähig bleibt. Ein weiteres gewichtiges Indiz ist aus Sicht des Senats, wenn der Arbeitnehmer bereits am nächsten Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist seine Arbeitsfähigkeit wiedererlangt.
Dagegen war der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 02.05.2022 nicht erschüttert, da der Kläger bei Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nichts von der Kündigung wusste, so dass keine zeitliche Koinzidenz zwischen der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gegeben war.
Im Ergebnis hat der Kläger für den Zeitraum vom 07.05.2022 bis zum 31.05.2022 nun wieder die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Da das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hat, weder durch Parteieinvernahme noch durch Einvernahme der behandelnden Ärzte als Zeugen, wurde die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung macht zweierlei sehr deutlich: Zum einen führt der Senat seine Rechtsprechung konsequent fort und zeigt auf, dass auch im Fall der Arbeitgeberkündigung Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet sind, wenn eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit besteht. Auf die Anzahl der ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt es zu Recht nicht an. Auch hier ist die zeitliche Koinzidenz zwischen absehbarer Beendigung des Arbeitsverhältnisses und Arbeitsunfähigkeit ein erheblicher Erschütterungsfaktor.
Richtig sind auch die Ausführungen des Senats, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und nur in eingeschränktem Maß in der Lage ist, Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzutragen. An den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dürfen daher keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Dies deckt sich mit der Entscheidung des Senats vom 18.01.2023 (5 AZR 93/22) – die sich insbesondere auf Krankheitsfälle im laufenden Arbeitsverhältnis bezieht.
Zum zweiten macht die Entscheidung aber auch deutlich, dass allein die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht dazu führt, dass der Arbeitnehmer endgültig seinen Entgeltfortzahlungsanspruch verliert. Vielmehr liegt es dann am weiteren Vortrag des Arbeitnehmers und insbesondere an den individuellen Umständen, ob und inwieweit der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeit darzulegen vermag. Ob die Zahlungsklage im Ergebnis begründet ist oder nicht, bleibt insofern auch nach der Entscheidung des Senats eine Frage des Einzelfalls, bei dem alle Umstände zu berücksichtigen sind.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des BAG ist schon insofern wichtig, als dass die aktuelle Rechtsprechungslinie bekräftigt und die Möglichkeiten für Arbeitgeber, den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern, gestärkt werden. Dies ist vor dem Hintergrund der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch richtig. Für die Praxis bedeutet das, im jeweiligen Fall die Grundlagen zum Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und deren Erschütterungsmomente zu prüfen und entsprechend zu handeln. Allerdings macht die Entscheidung noch einmal sehr deutlich, dass mit einer Erschütterung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die Frage um eine Entgeltfortzahlung noch nicht entschieden ist.
Das „Anziehen“ in der Darlegungs- und Beweislast und die kritische gerichtliche Überprüfung der ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen werden praktisch dazu führen, dass sowohl Arbeitnehmer als auch Ärzte künftig immer häufiger gezwungen werden können, im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens das Krankheitsbild und das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit näher zu erläutern. Sofern daraus eine höhere Sensibilität bei der ärztlichen Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit folgt, wäre das aus Sicht des Verfassers bereits ein Etappensieg, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wieder nachhaltig zu stärken.



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