juris PraxisReporte

Anmerkung zu:EuGH 3. Kammer, Urteil vom 10.02.2022 - C-485/20
Autor:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Erscheinungsdatum:11.10.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 KSchG, § 173 SGB 9, § 164 SGB 9, § 1 AGG, § 7 AGG, § 134 BGB, § 167 SGB 9, 12016P021, EGRL 78/2000
Fundstelle:jurisPR-ArbR 41/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Düwell, jurisPR-ArbR 41/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung



Orientierungssatz zur Anmerkung

Es besteht eine Verpflichtung des Arbeitgebers bei der Beschäftigung eines Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, die bei Auftreten einer Schwierigkeit eine weitere möglichst dauerhafte Beschäftigung ermöglichen. Diese Verpflichtung trifft den Arbeitgeber schon in der Probezeit.



A.
Problemstellung
In den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses besteht für schwerbehinderte Arbeitnehmer weder ein allgemeiner Kündigungsschutz (§ 1 Abs. 1 KSchG) noch bedarf eine Arbeitgeberkündigung der Zustimmung des Integrationsamts (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Daraus hat die h.M. bisher geschlossen: Der Arbeitgeber kann, ohne beim Auftreten von Schwierigkeiten das in § 167 Abs. 1 SGB IX vorgesehene Präventionsverfahren durchführen müssen, dem schwerbehinderten Menschen in der Probezeit (Wartezeit auf den Kündigungsschutz) das Arbeitsverhältnis kündigen (BAG, Urt. v. 21.04.2016 - 8 AZR 402/14 - BAGE 155, 61). Die Gegenansicht hat nunmehr durch den EuGH eine Unterstützung erhalten. Es stellt sich in Anwendung der ergangenen Entscheidung die Rechtsfrage, wie sich die verbindliche Auslegung von Art. 5 der Richtlinie EGRL 78/2000 (künftig RL) auf das deutsche Schwerbehinderten- und Kündigungsrecht auswirkt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde von der belgischen Eisenbahn als Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege Ende November 2016 eingestellt. Im Lauf des Monats Dezember 2017 wurde eine Herzerkrankung diagnostiziert, die das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Dieses Gerät reagiert empfindlich auf elektromagnetische Felder, die u.a. in Gleisanlagen verbreitet auftreten. Es wurde von der zuständigen staatlichen Stelle eine Behinderung anerkannt. Wegen der Behinderung konnte der Kläger nicht länger die Aufgaben wahrnehmen, für die er ursprünglich eingestellt worden war. Der Kläger wurde bis zur endgültigen Klärung als Lagerist eingesetzt. Das Beschäftigungsverhältnis wurde zum 30.09.2018 durch Kündigung beendet, weil für Bedienstete in der Probezeit, bei denen eine Behinderung anerkannt werde und die daher nicht mehr in der Lage seien, ihre Tätigkeit auszuüben, keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens vorgesehen sei.
Der Kläger erhob beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) Klage auf Nichtigerklärung der Entlassung zum 30.09.2018. Das angerufene Gericht bat um eine Vorabentscheidung zu der Frage, ob unter „angemessene Vorkehrungen“ i.S.v. Art. 5 RL auch die Möglichkeit zu verstehen sei, eine Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage sei, die gleiche Tätigkeit auszuüben wie vor dem Eintritt ihrer Behinderung, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden.
Der EuGH hat diese Auslegung von Art. 5 der RL bejaht. Er hat verbindlich als Inhalt festgestellt: Der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ für Menschen mit Behinderung erfasst
1. einen Arbeitnehmer, der zwar aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, aber auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist;
2. dies schließt auch denjenigen ein, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert;
3. dies steht allerdings unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.


C.
Kontext der Entscheidung
Der Gerichtshof hat zunächst aus seiner bisherigen Rechtsprechung die Einbeziehung von Beschäftigten begründet, die eine Probezeit absolvieren. Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne der RL erfasst auch Personen, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, die als eine mit der eigentlichen Ausübung des betreffenden Berufs verbundene praktische Vorbereitung betrachtet werden können, wenn diese Zeiten unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis für einen Arbeitgeber nach dessen Weisung absolviert werden (Bezug auf: EuGH, Urt. v. 09.07.2015 - C-229/14 Rn. 50 „Balkaya“ und die dort angeführte Rechtsprechung). Sodann hat der Gerichtshof in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung die Versetzung als eine weitere Maßnahme herausgearbeitet, die ein Arbeitgeber im Rahmen angemessener Vorkehrungen zu treffen hat. Aus Art. 5 der RL ergebe sich kein abgeschlossener Katalog von Maßnahmen. Der Arbeitgeber habe jeweils die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Wenn speziell im 20. Erwägungsgrund der RL Maßnahmen wie „wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z.B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen“ genannt werden, so habe der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser Erwägungsgrund eine nicht abschließende Aufzählung geeigneter Maßnahmen enthalte. Zudem sei die Definition des Begriffs „angemessene Vorkehrungen“ in Art. 5 der RL im Lichte von Art. 2 Abs. 4 des UN-Übereinkommens eine Ausweitung erweiternd auszulegen (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 11.04.2013 - C-335/11 und C-337/11 Rn. 49 und 53 „HK Danmark“). Die Bezugnahme im 20. Erwägungsgrund auf die Ausgestaltung des „Arbeitsplatzes“ sei dahin zu verstehen, dass die dort aufgeführten Arten der Ausgestaltung gegenüber anderen Maßnahmen als vorrangig hervorgehoben werden sollen. Sei diese Art der Ausgestaltung nicht zielführend, müsse der Arbeitgeber auch eine andere Maßnahme ergreifen, wenn sie, wie die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz, es ermögliche, die Beschäftigung zu erhalten.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Im Schrifttum wird die Bedeutung der EuGH-Vorabentscheidung für das deutsche Recht erkannt. So wird ausgeführt, die Auslegung von Art. 5 der RL wirke sich dahin aus, dass sie zu einer Ausweitung des Kündigungsschutzes führe (Brose, EuZA 2023, 94). Damit verliere die Probezeit im Beschäftigungsverhältnis den Zweck, die Geeignetheit des Arbeitnehmers für den Arbeitsplatz zu prüfen und ggf. das Arbeitsverhältnis einfacher aufzulösen. Dies gelte auch insbesondere für schwerbehinderte Beschäftigte, für die nach dem Wortlaut des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX der besondere Kündigungsschutz in den ersten sechs Monaten noch nicht greife. Durch die Entscheidung werde nun der Anwendungsbereich der diskriminierenden Kündigung erheblich ausgeweitet, weil die Gerichte für Arbeitssachen an die Auslegung des EuGH gebunden sind. Soweit im Schrifttum aufgrund der Besonderheit des Ausgangsfalles geschlussfolgert wird, die Auslegung des EuGH gölte nur für die Konstellation, dass ein Arbeitnehmer während der Probezeit behindert werde (Brose, EuZA 2023, 94), kann dem nicht zugestimmt werden. Sonst besteht im Ergebnis Übereinstimmung (vgl. Düwell, PersR 2022, Nr 4, 40; Düwell, SuI 2022, Heft 4, 9).
Zusammenfassend ist von folgenden Auswirkungen auszugehen:
1. In der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG besteht weder der allgemeine Schutz vor einer sozial ungerechtfertigten Kündigung noch nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX der besondere Schutz vor einer Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamts.
2. In dieser Wartezeit besteht jedoch keine völlige Kündigungsfreiheit; denn der Arbeitgeber hat das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung aus Art. 21 GRCh zu beachten, das durch Art. 5 der RL konkretisiert wird. Dieses Verbot schreibt auch für die Warte-/Probezeit vor, angemessene Vorkehrungen zur behinderungsgerechten Beschäftigung zu prüfen und ggf. zu treffen.
3. Ist bei fehlender Eignung für die bisherige Arbeit ein anderweitiger behinderungsgerechter Einsatz möglich, ohne dass der Arbeitgeber unzumutbar belastet wird, stellt sich eine dennoch ausgesprochene Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen nach § 164 Abs. 2 SGB IX i.V.m. § 134 BGB als verbotene diskriminierende Kündigung dar. Bei Menschen mit Behinderungen, die nicht schwerbehindert oder diesen gleichgestellt sind, ergibt sich die Unwirksamkeit aus dem allgemeinen Benachteiligungsverbot in den §§ 1, 7 AGG i.V.m. § 134 BGB.
4. Die Entwicklungslinie der Rechtsprechung des EuGH zu angemessenen Vorkehrungen spricht dafür, dass das in § 167 Abs. 1 SGB IX vorgeschriebene präventionsrechtliche Klärungsverfahren auch in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung eines schwerbehinderten Menschen vom Arbeitgeber durchzuführen ist. Die entgegenstehende Rechtsprechung (so BAG, Urt. v. 21.04.2016 - 8 AZR 402/14 - BAGE 155, 61) sollte angepasst werden; denn ohne dieses Klärungsverfahren wird der schwerbehinderte Mensch zumeist nicht die betrieblichen Möglichkeiten erkennen können, die dem Arbeitgeber für die Fortsetzung einer geeigneten Beschäftigung zur Verfügung stehen.



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