News & Abstracts

Autor:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Erscheinungsdatum:07.12.2022
Quelle:juris Logo
Normen:§ 44 SGB 9, § 177 SGB 9, § 163 SGB 9, § 162 SGB 9, § 154 SGB 9, § 23 SGB 9, § 164 SGB 9, § 167 SGB 9, § 160 SGB 9, § 156 SGB 9, § 238 SGB 9, § 37 SchwbG
Fundstelle:jurisPR-ArbR 49/2022 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Düwell, jurisPR-ArbR 49/2022 Anm. 1 Zitiervorschlag

Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts

I. Rechtspolitischer Hintergrund

Im Koalitionsvertrag der Ampel ist vereinbart: „Wir legen den Schwerpunkt auf die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen.“1 Dem Koalitionsvertrag waren Positionierungen der späteren Koalitionspartner im Wahlkampf vorausgegangen. So hatte Saskia Esken als Parteivorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an den Sprecher einer BEM-Initiative von Betriebsräten und Schwerbehindertenvertretungen am 20.08.2021 im Auftrag des Kanzlerkandidaten zu den Themen BEM und stufenweise Wiedereingliederung Stellung bezogen.2 Insbesondere hatte sie der Forderung nach einem Rechtsanspruch auf ein BEM zugestimmt und erweiternd in Aussicht gestellt: „Analog sollte auch die stufenweise Wiedereingliederung im § 44 SGB IX für Arbeitgeber*innen verpflichtend sein, sofern keine dringenden betrieblichen Gründe entgegenstehen. Auch dies ist bisher nicht ausreichend geregelt und wollen wir ändern. Diese Rechtsansprüche wären aus Sicht der SPD ein entscheidender Fortschritt …“.

II. Stand der Gesetzgebung

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erarbeitete am 04.11.2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts. Nach einer Ressortabstimmung hat das BMAS am 24.11.2022 den in einigen Punkten geänderten Referentenentwurf den Verbänden sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen den Referentenentwurf zur Anhörung zugeleitet. Es ist damit zu rechnen, dass der Entwurf im Januar im Kabinett beschlossen und dem Bundesrat zur Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens übersandt wird.

Das Inkrafttreten ist gestuft vorgesehen: Die Erhöhung der Ausgleichsabgabe tritt am 01.01.2024 in Kraft. Andere Bestimmungen treten am Tag nach der Verkündung in Kraft.

III. Überblick über das Gesetzgebungsvorhaben

Der aus der Ressortabstimmung hervorgegangene Entwurf vom 24.11.2022 sieht im Wesentlichen folgende Änderungen des SGB IX vor:

Erhöhung der Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen („vierte Staffel“), wobei wie bisher Sonderregelungen für kleinere Arbeitgeber gelten sollen,
stärkere Konzentration der Mittel aus der Ausgleichsabgabe auf die Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt,
Einführung einer Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen des Integrationsamts,
Aufhebung der Deckelung für den Lohnkostenzuschuss beim Budget für Arbeit,
Neuausrichtung des Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizinische Begutachtung.

Ferner sind Änderungen in anderen Büchern des Sozialgesetzbuchs und in anderen sozialrechtlichen Gesetzen sowie in der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung vorgesehen. Diese haben jedoch mit Ausnahme der Änderungen in der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung für die arbeitsrechtliche Praxis keine oder nur geringe Bedeutung.

IV. Was ist ausgespart?

1. Kein Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung

Es fällt auf, dass der aktuelle Referentenentwurf von dem ursprünglichen Entwurf Stand 04.11.2022 abweicht; denn dieser enthielt noch als wesentlichen Lösungsansatz für den inklusiven Arbeitsmarkt den „Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung“. Darauf soll inzwischen verzichtet werden. Insoweit wird von der Ankündigung der SPD-Parteivorsitzenden vom 20.08.2021 abgewichen.

2. Kein Anspruch der betroffenen Person auf BEM

Bemerkenswert ist auch, dass weder der ursprüngliche noch der am 24.11. vorgelegte Referentenentwurf den von Saskia Esken befürworteten Anspruch der betroffenen Person auf Einleitung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) berücksichtigt haben. Dies ist um so auffälliger, als das BAG in seiner den Anspruch verneinenden Entscheidung deutlich auf das Problem hingewiesen hat. Dort hat das BAG den Rechtssatz aufgestellt: „§ 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX begründet keinen Individualanspruch der betroffenen Arbeitnehmer auf Einleitung und Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements.“3 Der Gesetzgeber habe bewusst in § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX nur den betrieblichen Interessenvertretungen einen Anspruch auf Klärung der Beschäftigungsmöglichkeiten der betroffenen Person eingeräumt. das ergebe auch die Gesetzesbegründung im Regierungsentwurf zur Einführung des BEM4. Weiter wird angeführt:

„Zukünftig soll im Sinne von ‚Rehabilitation statt Entlassung‘ ein betriebliches Eingliederungsmanagement praktiziert werden. Denn Arbeitslosigkeit und vorzeitiger Rentenbezug von Menschen mit Behinderungen kosten um ein Vielfaches mehr als eine sinnvolle Prävention und Rehabilitation … Durch den dauerhaften Erhalt des Arbeitsverhältnisses können Leid bei den Betroffenen vermieden und Arbeitgeber von erheblichen Kosten entlastet werden.“ Zwar ist dort nicht von einem individuellen Klärungsanspruch ausdrücklich die Rede, aber aus dem Ziel des dauerhaften Erhalts des Arbeitsverhältnisses mit den Mitteln von Prävention und Rehabilitation wird aber deutlich, dass nicht dem Beteiligungsinteresse der Interessenvertretungen, sondern dem Beschäftigungsinteresse der betroffenen Erkrankten die Regelung dienen soll. Jedenfalls kann der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung nicht mit der erforderlichen Klarheit entnommen werden, dass die betroffenen Personen nur Objekt des BEM sein sollen, ohne dass ihnen ein subjektives Recht zustehen soll. Deshalb ist ein klarstellender Gesetzgebungsakt geboten.

3. Keine klaren Regeln für SBV-Wahlen

Unverständlich ist auch, dass die in § 177 Abs. 5 und 6 SGB IX unzureichend geregelten gesetzlichen Grundlagen für das Verfahren zur Wahl der Schwerbehindertenvertretungen nicht überarbeitet werden. Das wäre zur Behebung von Widersprüchen und Unklarheiten dringend geboten.5

V. Die wichtigsten Änderungen im SGB IX

1. Höhe der Ausgleichabgabe

Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes enthält mit Wirkung vom 01.01.2024 Änderungen der Regelungen zur Ausgleichsabgabe. In § 160 Abs. 1 SGB IX ist geregelt, dass private und öffentliche Arbeitgeber auf wenigstens fünf Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen haben. Diese Regelung gilt für Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich mindestens 20 Arbeitsplätzen. Wird diese Beschäftigungspflicht nicht oder nicht vollständig erfüllt, sind die Arbeitgeber verpflichtet, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Nach den zuletzt veröffentlichten Daten besetzten im Jahr 2019 rund 160.200 beschäftigungspflichtige private Arbeitgeber etwa 814.100 Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen und 11.360 beschäftigungspflichtige öffentliche Arbeitgeber gut 332.300 Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen. Die Pflichtquote von 5% haben im Jahr 2019 rund 132.200 Arbeitgeber nicht erfüllt, und mehr als 43.700 von ihnen beschäftigten überhaupt keinen schwerbehinderten Menschen.6 Die Ist-Beschäftigungsquote bei den öffentlichen Arbeitgebern lag 2019 bei 6,5%, bei den privaten Arbeitgebern betrug sie 4,1%.7 Die neuesten Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen in Auswertung des Anzeigeverfahrens nach § 163 Abs. 2 SGB IX für das Berichtsjahr 2020 keine Verbesserung.8 Die Zahl der Null-Beschäftiger ist trotz zahlreicher Anreizbemühungen seit Jahrzehnten mit ca. 25% aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber gleich hoch geblieben.9 Das Instrument der bereits mit dem Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 06.04.1920 (Schwerbeschädigtengesetz)10 eingeführten Ausgleichsabgabe hat sich insoweit als nicht hinreichend wirksam erwiesen. Derzeit betragen nach § 160 Abs. 2 SGB IX die nach Grad der Nichterfüllung progressiv für jeden nicht mit einem schwerbehinderten Menschen besetzten Pflichtarbeitsplatz ansteigenden Sätze pro Monat:

- 125 Euro bei einer Beschäftigungsquote von 3 Prozent bis 5 Prozent,

- 220 Euro bei einer Beschäftigungsquote von 2 Prozent bis weniger als 3 Prozent und

- 320 Euro bei einer Beschäftigungsquote von weniger als 2 Prozent.

Seit dem Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 29.09.2000 bemühte sich die Bundesregierung mehrfach, eine spürbare Erhöhung der Ist-Beschäftigung zu erzielen. Dies war aber stets vergeblich. So etwas kann nicht auf Dauer hingenommen werden.

Daher wird zum Jahr 2024 eine weitere (vierte) Staffel für die Beschäftigungsquote null Prozent neu eingeführt, um die Antriebsfunktion der Ausgleichsabgabe zu unterstreichen. Die beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber, die keinen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, sollen eine doppelt so hohe Ausgleichsabgabe zahlen wie diejenigen Arbeitgeber, die wenigstens in geringem Maße schwerbehinderte Menschen beschäftigen und damit zum Ausdruck bringen, dass sie sich zumindest teilweise mit dem Ziel der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen identifizieren. Mit der Einführung des vierten Staffelsatzes wird eine Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Dort heißt es:

„Wir werden … eine vierte Stufe der Ausgleichsabgabe für jene einführen, die trotz Beschäftigungspflicht keinen Menschen mit Behinderungen beschäftigen.“11

Zudem wird im Gesetzeswortlaut für die erste bis dritte Staffel der Dynamisierungsvorgabe in § 160 Abs. 3 SGB IX Rechnung getragen. Die bereits zum Beschäftigungsjahr 2021 erfolgte Anpassung der Ausgleichsabgabesätze durch die Bekanntmachung des BMAS vom 19.11.202012 wird in den Gesetzeswortlaut nachgetragen. Die Höhe der seit dem 01.01.2021 geltenden Staffelsätze bleibt unverändert. Die ab 2024 geltenden Sätze betragen pro Monat:

- 140 Euro bei einer Beschäftigungsquote von 3 Prozent bis 5 Prozent,

- 240 Euro bei einer Beschäftigungsquote von 2 Prozent bis weniger als 3 Prozent und

- 360 Euro bei einer Beschäftigungsquote von weniger als 2 Prozent,

- 720 Euro bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote von 0 Prozent.

Für kleine Unternehmen werden in Absatz 2 Satz 2 Erleichterungen vorgesehen:

„Abweichend von Satz 1 beträgt die Ausgleichsabgabe je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen

1. für Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich weniger als 40 zu berücksichtigenden Arbeitsplätzen bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von weniger als einem schwerbehinderten Menschen 140 Euro und bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von null schwerbehinderten Menschen 245 Euro und

2. für Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich weniger als 60 zu berücksichtigenden Arbeitsplätzen bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von weniger als zwei schwerbehinderten Menschen 140 Euro, bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von weniger als einem schwerbehinderten Menschen 245 Euro und bei einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigung von null schwerbehinderten Menschen 360 Euro.“

In Art. 10 Abs. 4 des Gesetzes ist bestimmt.

„Das Inkrafttreten von Artikel 1 Nummer 7 gilt nicht als Neubestimmung der Beträge der Ausgleichsabgabe im Sinne des § 160 Absatz 3 Satz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch.“

Damit ist klargestellt, dass die Dynamisierungsregelung auf alle Ausgleichsabgabesätze gleichmäßig zur Anwendung kommt und dass auch in Zukunft alle Ausgleichsabgabesätze gleichzeitig angepasst werden, das nächste Mal, wenn sich die Bezugsgröße im Vergleich zum Jahr 2021 um wenigstens 10 Prozent erhöht hat.13

2. Wegfall der Bußgeldsanktion für beschäftigungsunwillige Arbeitgeber

In § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX ist bestimmt: „Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig

1. entgegen § 154 Absatz 1 Satz 1, auch in Verbindung mit einer Rechtsverordnung nach § 162 Nummer 1, oder entgegen § 154 Absatz 1 Satz 3 einen schwerbehinderten Menschen nicht beschäftigt, …“.

Nach Absatz 2 kann die Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 10.000 Euro geahndet werden.

Häufig wird der Geltungsgrund der Regelung verkannt. Durch die Zahlung der Ausgleichsabgabe nach § 160 SGB IX entfällt der Tatbestand nicht. Das ist ausdrücklich in § 160 Abs. 1 Satz 2 SGB IX klargestellt. Es liegt auch keine Identität der Tatbestände vor; denn die Verpflichtung zur Zahlung der Ausgleichsabgabe besteht auch dann, wenn der beschäftigungspflichtige Arbeitgeber trotz ehrlicher Bemühungen keinen schwerbehinderten Menschen für einen Pflichtarbeitsplatz einstellen kann. Das liegt im Wesen der Ausgleichsabgabe, die nicht nur eine Anreizfunktion, sondern in erster Linie eine Ausgleichsfunktion erfüllt.14 Wer Aufwendungen für die behinderungsgerechte Beschäftigung erspart, soll in den Ausgleichstopf einzahlen, damit in einem anderen Betrieb die behinderungsgerechte Beschäftigung eines schwerbehinderten Menschen ermöglicht wird, die z.B. eine Ausstattung des Arbeitsplatzes mit technischen Arbeitshilfen im Rahmen der begleitenden Hilfe durch das Integrationsamt erfordert. Demgegenüber setzt die Ordnungswidrigkeit nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX eine vorsätzliche, zumindest aber fahrlässige Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht voraus. Letztlich wird damit sanktioniert, dass der Arbeitgeber sich nicht entsprechend § 164 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB IX um eine Vermittlung eines arbeitsuchenden schwerbehinderten Menschen bemüht hat15 oder einen beschäftigten schwerbehinderten Menschen wegen seiner Behinderung oder wegen einer Erkrankung entgegen § 167 Abs. 1 bzw. Abs. 2 SGB IX aus dem Betrieb gedrängt hat. Der Entwurf bezeichnet diesen Sanktionsdruck, der zur Erfüllung der Arbeitgeberpflichten anhalten soll, als „nicht mehr angemessen“.16 Wenn Arbeitgeber, die keinen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, künftig eine erhöhte Ausgleichsabgabe zahlen, sei es nicht mehr angemessen, die Nichtbeschäftigung zusätzlich auch noch mit einem Bußgeld zu sanktionieren.17

Dieses Argument zeugt von einer mangelnden Durchdringung des Tatbestands. Es verwirklicht nicht nur derjenige Arbeitgeber, der keinen schwerbehinderten Menschen beschäftigt (sog. Null-Beschäftiger) und künftig eine erhöhte Ausgleichsabgabe zahlen hat, den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX, sondern auch derjenige, der zwar schwerbehinderte Menschen beschäftigt, aber nicht in ausreichender Anzahl. Deshalb kann die Einführung der vierten Staffel mit der erhöhten Ausgleichsabgabe für Null-Beschäftiger nicht geeignet sein, die Abschaffung der Bußgeldsanktion zu begründen.

Nicht nachvollziehbar ist auch folgende im Entwurf enthaltene Behauptung: „Ein zusätzliches Bußgeld ist auch kontraproduktiv, wenn ein Arbeitgeber dazu bewogen werden soll, einen schwerbehinderten Menschen einzustellen.“18 Das Recht hat zur Verhaltenssteuerung der Normadressaten nur die Instrumente von positiven und negativen Anreizen. Werden Ordnungswidrigkeiten effektiv verfolgt, so wird das Verhalten der Betroffenen durch den Druck erneuter Sanktion geändert. Warum dieses Mittel, das bei der Einhaltung des Tempolimits auf Straßen erfolgreich ist, im Bereich der Schwerbehindertenbeschäftigung „kontraproduktiv“ sein soll, ist ein Geheimnis des Entwurfsverfassers.

Etwa 173.000 Unternehmen in Deutschland sind gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung zu vergeben. Nur rund 40 Prozent dieser Unternehmen besetzen alle Pflichtarbeitsplätze. Mit dem Wegfall der Bußgelddrohung möchte das BMAS diesen Arbeitgebern die Möglichkeit des legalen Freikaufens von der Beschäftigungspflicht eröffnen. Bislang steht in § 160 Abs. 1 Satz 2 SGB IX: „Die Zahlung der Ausgleichsabgabe hebt die Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht auf.“ Das gefällt nicht. Das soll geändert werden.

Der Wegfall der Bußgeldsanktion kann auch nicht mit der Bedeutungslosigkeit der Norm begründet werden. Zwar werden die Daten, wie viele Fälle vorsätzlicher oder fahrlässiger Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht anfallen, nicht veröffentlicht. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, es gäbe keine. Allerdings wurde bis zum Jahre 2009 nur selten ein Bußgeld verhängt.19 Die daran im Bundestag geäußerte Kritik20 führte jedoch zu einer Änderung. Bei der Bundesagentur für Arbeit wurde durch Einführung von 40 Operative Services eine Umorganisation vorgenommen.21 Zuvor scheinen OWi-Verdachtsfälle vielfach nicht vom Sachbearbeiter an die OWi-bearbeitende Stelle weitergeleitet worden zu sein. Nach der Umorganisation stiegen im Jahr 2012 zu § 156 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX (seit 2018 § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) die Zahl der aufgegriffenen Fälle der schuldhaften Nichtbeschäftigung auf 144, die Zahl der verhängten rechtskräftigen Geldbußen auf 42 und die Summe der eingezogenen Geldbußen auf 21.495 Euro.22 Da noch immer keine Statistik der OWi-Sachen der Bundesagentur veröffentlicht wird, stehen neuere Daten nicht zur Verfügung. Es ist jedoch zu vermuten, dass die Zahlen weiter angestiegen sind; denn die Bundesagentur hat sich im Zuge der Gesetzgebung des Bundesteilhabegesetzes dafür eingesetzt, dass in Änderung des § 238 Abs. 4 SGB IX die Geldbußen nicht mehr an die Integrationsämter abgeführt werden, sondern in die Kasse der Bundesagentur fließen.

Der Bundesgesetzgeber hat die schon in der Weimarer Republik eingeführte Mindestbeschäftigungsquote von schwerbehinderten Menschen mit dem Instrument des Bußgelds in § 37 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (Schwerbeschädigtengesetz) vom 16.06.1953 abgesichert. Ohne dass im Koalitionsvertrag dazu eine Vereinbarung getroffen ist, soll jetzt nach fast 70 Jahren dieses Instrument plötzlich als „kontraproduktiv“ aufgegeben werden. Dies überrascht.


Fußnoten


1)

Koalitionsvertrag S. 61. Abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, abgerufen am 02.12.2022.

2)

Kopie des Schreibens liegt dem Autor vor.

3)

BAG, Urt. v. 07.09.2021 - 9 AZR 571/20 Rn. 14 - EzA-SD 2022, Nr. 3, 14-15.

4)

BAG, Urt. v. 07.09.2021 - 9 AZR 571/20 Rn. 17 - EzA-SD 2022, Nr. 3, 14-15 und Bezugnahme auf BT-Drs. 15/2318, S. 22.

5)

Vgl. Sachadae, PersV 2015, 170, Korrekturbedarf im Wahlrecht der Schwerbehindertenvertretung; Düwell, BB 2015, 53, Anfechtungsfalle bei den überörtlichen Wahlen zu den Schwerbehindertenvertretungen.

6)

Anzeigeverfahren SGB IX, Jahreszahlen Deutschland 2019, Bundesagentur für Arbeit, Stand: 30.03.2021, zitiert nach BIH Jahresbericht 2020/2021, S. 59.

7)

Anzeigeverfahren SGB IX, Jahreszahlen Deutschland 2019, Bundesagentur für Arbeit, Stand: 30.03.2021, zitiert nach BIH Jahresbericht 2020/2021, S. 60.

9)

Referentenentwurf, Stand 14.11.2022, S. 20.

10)

RGBl 1920, 458.

11)

Koalitionsvertrag, S. 61. Abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, abgerufen am 02.12.2022.

12)

Vgl. BAnz AT 30.11.2020 B1; weiterführend zum Anpassungsverfahren: Düwell, jurisPR-ArbR 2/2012 Anm. 1.

13)

Referentenentwurf, Stand: 14.11.2022, S. 28.

14)

Vertiefend Joussen in: LPK-SGB IX, 6. Aufl., § 160 Rn. 4.

15)

So zutreffend: Vogl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 238 SGB IX Rn. 30.

16)

Referentenentwurf, Stand: 14.11.2022, S. 22.

17)

Referentenentwurf, Stand: 14.11.2022, S. 22.

18)

Referentenentwurf, Stand: 14.11.2022, S. 22.

19)

Vgl. Übersicht bei Hoffmann/Düwell in: LPK-SGB IX, 4. Aufl., § 156 Rn. 31.

20)
21)

Beyer in: LPK-SGB IX, 6. Aufl., § 238 Rn. 31.

22)

Beyer in: LPK-SGB IX, 6. Aufl., § 238 Rn. 31.


Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!