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Anmerkung zu:BGH 2. Zivilsenat, Beschluss vom 27.06.2023 - , II ZR 57/21, BGH 2. Zivilsenat, Beschluss vom 27.06.2023 - , II ZR 58/21, BGH 2. Zivilsenat, Beschluss vom 27.06.2023 - , II ZR 59/21, BGH 11. Zivilsenat, Beschluss vom 11.07.2023 - XI ZR 60/22
Autor:Dr. Torsten Henning, Vizepräsident LG
Erscheinungsdatum:29.08.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 522 ZPO, § 10 WpPG, § 14 WpPG, § 21 VermAnlG, § 306 KAGB, § 127 InvG, § 20 VermAnlG, § 9 WpPG, § 282 BGB, § 46 BörsG, § 44 BörsG, § 311 BGB, § 241 BGB, § 280 BGB
Fundstelle:jurisPR-BKR 8/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Stephan Meder, Universität Hannover
Dr. Anna-Maria Beesch, RA'in und FA'in für Bank- und Kapitalmarktrecht
Zitiervorschlag:Henning, jurisPR-BKR 8/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Streit zwischen dem II. und dem XI. Zivilsenat des BGH um Konkurrenzen im Prospekthaftungsrecht beigelegt - zugleich Anmerkung zu BGH, Beschlüsse vom 27.06.2023 - II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21 sowie BGH, Beschl. v. 11.07.2023 - XI ZR 60/22

A. Problemstellung

Der veritable und die unteren Instanzgerichte zunehmend verunsichernde Streit zwischen dem II. und dem XI. Zivilsenat des BGH über Bestehen und Reichweite eines Vorrangs der spezialgesetzlichen vor der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im weiteren Sinne (dazu Henning, jurisPR-BKR 1/2023 Anm. 2) scheint beigelegt. In drei von einer Pressemitteilung (Nr. 108/2023 v. 11.07.2023) flankierten und für sich genommen unscheinbaren Beschlüssen vom 27.06.2023 (II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21) ohne Leitsatz präsentiert der Gesellschaftsrechtssenat eine mit dem Bankrechtssenat abgesprochene (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 11.07.2023 - XI ZR 60/22) und für beide Seiten gesichtswahrende Lösung „auf dem kleinen Dienstweg“, ohne den Großen Senat für Zivilsachen anrufen zu müssen. Damit haben einerseits die Land- und Oberlandesgerichte nun endlich eine Orientierungshilfe für die Bearbeitung der zahlreichen dort anhängigen Verfahren an die Hand bekommen; andererseits wird – und das ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Vergangenheit z.B. hinsichtlich der Aufklärungspflicht bei Innenprovisionen/Rückvergütungen (dazu Henning, jurisPR-BKR 10/2020 Anm. 1) erfreulich – vermieden, dass das Ergebnis ein- und derselben Fallkonstellation in der dritten Instanz davon abhängt, bei welchem Senat die Sache landet. Ob und wie sich die – euphemistisch „Neuausrichtung“ genannte – Leitlinie in der Praxis bewährt, muss die Zeit zeigen.

B. Entscheidungen

Der den obigen drei Beschlüssen des II. Zivilsenats zugrunde liegende Sachverhalt ist nicht einfach zu ermitteln. Denn die zugehörigen Berufungsentscheidungen sind nicht veröffentlicht. Allerdings hat der BGH in einer Pressemitteilung (Nr. 56/2023 v. 22.03.2023) zum Parallelverfahren II ZR 56/21 verlautbart, dass die dort adressierte Revisionszulassung vor dem Hintergrund erfolgt sei, dass die beklagten Gründungsgesellschafterinnen ihre Revision vor der Verhandlung zurückgenommen haben, so dass der Termin vom 21.03.2023 aufgehoben wurde. Der dort angegriffene Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO des OLG Hamburg stammt – ebenso wie die hier in Rede stehenden Berufungsentscheidungen – vom selben Senat, trägt das gleiche Datum (25.03.2021) und kann deshalb zugrunde gelegt werden. Dabei ging es um Folgendes:

Die Verfahren betreffen die Haftung von Gründungsgesellschaftern einer Publikumskommanditgesellschaft, die Immobilieninvestments auf dem US-amerikanischen Markt plante. Die Anleger, die sich Ende 2010 bzw. im Jahr 2011 an der Gesellschaft beteiligten, machen klageweise geltend, sie seien nicht hinreichend über kapitalmäßige bzw. personelle Verflechtungen aufgeklärt worden.

Die Beklagten waren in ihren Eigenschaften als geschäftsführende Kommanditistin (Beklagte zu 1) bzw. Komplementärin (Beklagte zu 2) Gründungsgesellschafterinnen der Fondsgesellschaft. Beide Gesellschaften waren 100%ige Tochtergesellschaften der H. GmbH, die ihrerseits eine 60%ige Tochtergesellschaft der H.T. GmbH war. Die Fondsgesellschaft hatte mit einer weiteren 100%igen Tochtergesellschaft der H. GmbH, der HTAM GmbH, einen sog. Asset Management Vertrag abgeschlossen. Die Fondsgesellschaft wandte sich an Anleger, die ein Immobilieninvestment, vor allem in hochwertige Büroimmobilien auf dem US-amerikanischen Markt, planten. Hierzu sollte mit der P. Inc., einer US-amerikanischen Gesellschaft im Rahmen der folgenden Struktur zusammengearbeitet werden: Die Fondsgesellschaft beteiligte sich mit dem Fondskapital als Limited Partner an einer auf den Cayman Inseln gegründeten Beteiligungsgesellschaft. General Partner dieser Gesellschaft war eine Tochtergesellschaft der P. Inc., die P.G.V, L.L.C. Diese Gesellschaft war zugleich General Partner der sog. Parallelgesellschaft, die ihrerseits durch internationale Investoren mit Geld zur Anlage auf dem US-Immobilienmarkt ausgestattet worden war und ihre Investitionen gemeinsam mit der Beteiligungsgesellschaft im Verhältnis ihrer Anlagevolumina vornehmen sollte. Geschäftsführer des General Partners war die P. Inc. Die Investitionsentscheidungen sollten allein im sog. Exekutivausschuss, einem mit leitenden Mitarbeitern der P. Inc. und ihrer Untergesellschaften besetzten Gremium, getroffen werden.

Grundlage für die Information der Anleger war der Verkaufsprospekt vom 08.05.2009 in der Fassung des ersten Nachtrags vom 24.08.2009. Der HTAM GmbH oblag nach dem Prospekt „die unabhängige Aufsicht und Qualitätskontrolle des Asset Managements […], welches durch den General Partner der Beteiligungsgesellschaft […] wahrgenommen wird“. Zu ihren Pflichten gehörte „die Beratung der F. KG in allen Bereichen, welche die immobilienwirtschaftlichen Aspekte der Investition beeinflussen“, laufende Marktbeobachtung, Research, die regelmäßige Analyse der Financial Statements, die Durchführung ggf. erforderlicher Abstimmungen mit dem General Partner und die Teilnahme an den Sitzungen des Investorenkomitees. Im Abschnitt über „Kapitalmäßige und personelle Verflechtungen“ klärt der Prospekt über eine Vielzahl von Verflechtungen auf. Präsident und CEO der P. Inc. und zugleich eines der Mitglieder des Exekutivausschusses war – wie im Prospekt zutreffend ausgeführt – A. B. Zugleich war Herr B. – was im Prospekt keine Erwähnung findet – alleiniger Gesellschafter der H.T. GmbH. Abschließend heißt es im Prospekt: „Über die in diesem Abschnitt ‚Kapitalmäßige und personelle Verflechtungen‘ genannten Darlegungen hinaus gibt es keine weiteren Verflechtungen rechtlicher, wirtschaftlicher oder persönlicher Art zwischen der F. KG einerseits und den Vertragsgesellschaften bzw. deren Organen andererseits. Neben den in diesem Prospekt dargestellten Verflechtungen bestehen keine weiteren kapitalmäßigen und/oder personellen Verflechtungen zwischen der Anbieterin und/oder den wesentlichen Vertragspartnern, Sachverständigen und Gutachtern sowie keine Abhängigkeiten von mit Kontrollfunktionen beauftragten Personen.“

Das Landgericht hat der jeweiligen Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe gegen die Beklagten wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten einen Schadensersatzanspruch aus den §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB. Zu den aufklärungspflichtigen Umständen gehöre, dass Herr B. Alleingesellschafter der H.T. GmbH gewesen sei, die ihrerseits einen beherrschenden Einfluss auf die H. GmbH als Muttergesellschaft sämtlicher in die Fondskonstruktion eingebundener Gesellschaften habe ausüben können. Dies erfasse insbesondere die Einflussnahmemöglichkeiten seitens Herrn B. auf die HTAM GmbH, deren Aufsichts- und Kontrollfunktion hierdurch beeinträchtigt werde. Die tatsächliche Beteiligungsstruktur erlaube es, diese wichtige und prospektierte Kontrollebene nach dem Willen des Kontrollierten auszuschalten. Die Kausalität der Aufklärungspflichtverletzung werde vermutet. Die Beweisaufnahme habe diese Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens nicht erschüttert.

Das Berufungsgericht hat die Berufungen der Beklagten nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

Der BGH hatte mit Beschluss vom 15.03.2022 im Verfahren II ZR 56/21 die Revision „wegen grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. Januar 2021 - XI ZB 35/18, BGHZ 228, 237 ff. zugelassen“. Nach der Rücknahme ließ er mit Beschlüssen vom 21.03.2023 in den Verfahren II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21 erneut die Revision zu und erteilte nun am 27.06.2023 in drei der Besprechungsentscheidungen Hinweise an die Parteien.

Auf diese Hinweise rekurriert der XI. Zivilsenat in dem abgesprochenen Beschluss vom 11.07.2023 in der Sache XI ZR 60/22.

C. Kontext

Die drei Besprechungsentscheidungen des II. Zivilsenats halten sich, was die Aufklärungspflicht hinsichtlich einer kapitalmäßigen und personellen Verflechtung angeht, im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung beider Senate des BGH (I.). Nachdem sich der II. Zivilsenat mittels eines denk- und leitsatzwürdigen obiter dictums in dem (mittlerweile am 28.02.2023 bestätigten) Hinweisbeschluss vom 25.10.2022 (II ZR 22/22) ausführlich gegen die Ansicht des XI. Zivilsenats zur Konkurrenz der beiden Prospekthaftungsregime gestellt hatte, kam es nunmehr vor einer von keiner Seite gewünschten Eskalation doch noch zu einer Einigung der beiden Spruchkörper in dieser Frage (II.). Diese verlangt beiden Senaten Einiges ab. Zudem werden zahlreiche Fallstricke verbleiben (III.).

I. Aufklärungspflicht über kapitalmäßige und personelle Verflechtungen

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH hat der Prospekt über ein Beteiligungsangebot, der für einen Beitrittsinteressenten im Allgemeinen die einzige Unterrichtungsmöglichkeit darstellt, den Anleger über alle Umstände, die für seine Entschließung von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können, sachlich richtig und vollständig zu unterrichten. Dazu gehört auch eine Darstellung der wesentlichen kapitalmäßigen und personellen Verflechtungen zwischen einerseits der Fondsgesellschaft, ihren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern, und andererseits dem Unternehmen sowie deren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern, in deren Hand die Beteiligungsgesellschaft die nach dem Prospekt durchzuführenden Vorhaben ganz oder wesentlich gelegt hat, und die Aufklärung über die diesem Personenkreis gewährten Sonderzuwendungen oder Sondervorteile. Dem Anleger müssen hinreichende Informationen geboten werden, um selbst beurteilen zu können, ob faktisch eine Beeinflussung der Entscheidungen droht. Darüber besteht zwischen dem II. Zivilsenat (BGH, Beschl. v. 04.06.2019 - II ZR 264/18 Rn. 12 m.w.N.) und dem XI. Zivilsenat (BGH, Beschl. v. 12.01.2021 - XI ZB 18/17 Rn. 88) Einigkeit. Denn derartige Verflechtungen begründen die Gefahr einer Interessenkollision zum Nachteil der Gesellschaft und der beitretenden Gesellschafter. Der einzelne Beitretende kann deshalb erwarten, dass er über diesen Sachverhalt aufgeklärt wird, damit er in Kenntnis des Risikos seine Entscheidung treffen und ggf. der bestehenden Gefährdung nach seinem Beitritt zusammen mit den Mitgesellschaftern begegnen kann (BGH, Beschl. v. 12.01.2021 - XI ZB 18/17 Rn. 88).

Es verwundert daher nicht, dass der BGH in den drei Besprechungsentscheidungen ausführt, eine Haftung (jedenfalls der Beklagten zu 1), dazu unter II.) komme unter Anwendung dieser Grundsätze in Betracht. Denn in dem Prospekt war lediglich offenbart, dass Herr B. als CEO des geschäftsführenden General Partners die Geschicke der Beteiligungsgesellschaft lenkt, in die die Fondsgesellschaft das Geld der Anleger investiert. Verschwiegen wurde demgegenüber, dass er auch als Alleingesellschafter über eine Zwischengesellschaft als beherrschendes Unternehmen die Geschäftsführung der Fondgesellschaft bestimmt und zudem die für die Kontrolle zuständige 100%ige Tochtergesellschaft steuert, so dass eine wirksame Überwachung der Mittelverwendung im Rahmen des Asset Management Vertrages ausschied.

II. Die „Neuausrichtung“

Die wirkliche Neuigkeit der – vier – Beschlüsse liegt aber darin, dass sowohl der II. wie auch der XI. Zivilsenat von ihren jeweiligen Maximalpositionen (dazu 1.) im Hinblick auf die Konkurrenzproblematik der Prospekthaftungsregime abgerückt sind und nunmehr nach vorheriger Absprache eine „Neuausrichtung“ (dazu 2.) – vulgo Abkehr – von der jeweiligen Rechtsprechung vorgenommen wird. Als Vehikel dient erneut nicht ein Revisionsurteil, sondern – wohl der gewünscht schnellen Beilegung des Streits geschuldet – auf Seiten des II. Zivilsenats ein bloßer Hinweisbeschluss und auf Seiten des XI. Zivilsenats ein ausnahmsweise begründeter NZB-Zurückweisungsbeschluss, die jeweils mit einer Pressemitteilung flankiert wurden, um dennoch die größtmögliche Breitenwirkung zu erzielen. Denn Entscheidungen ohne Leitsatz werden schlicht kaum wahrgenommen.

1. Die bisherigen Positionen

Der XI. Zivilsenat des BGH geht seit 2018 (BGH, Beschl. v. 23.10.2018 - XI ZB 3/16 Rn. 55 - BGHZ 220, 100; BGH, Beschl. v. 19.01.2021 - XI ZB 35/18, vgl. Henning, jurisPR-BKR 5/2021 Anm. 2) in nunmehr ständiger Rechtsprechung (z.B. BGH, Beschl. v. 26.04.2022 - XI ZB 27/20, dazu Henning, jurisPR-BKR 9/2022 Anm. 2) vom Vorrang der spezialgesetzlichen vor der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung (im engeren und weiteren Sinne) aus. Das soll nicht nur für die nach § 127 InvG a.F. haftende Kapitalanlagegesellschaft und für die Haftung nach § 13 VerkProspG, §§ 44 ff. BörsG a.F. gelten, sondern gleichermaßen für die spezialgesetzliche Prospekthaftung nach den §§ 9, 10, 14 WpPG, nach den §§ 20, 21 VermAnlG sowie nach § 306 KAGB (BGH, Beschl. v. 14.06.2022 - XI ZR 395/21 Rn. 8, dazu Henning, jurisPR-BKR 10/2022 Anm. 1). Denn der Adressat der spezialgesetzlichen Prospekthaftung, der zugleich Vertragspartner des Anlegers wird, verwirkliche stets die Voraussetzungen der sog. Prospekthaftung im weiteren Sinne in der Fallgruppe des Verschuldens bei Vertragsschluss mittels Verwendens eines fehlerhaften Prospekts (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB; so BGH, Beschl. v. 14.06.2022 - XI ZR 395/21 Rn. 13). Damit ist eine Haftung der Gründungsgesellschafter von Fondsgesellschaften aus Prospekthaftung im weiteren Sinne in diesen Fällen ausgeschlossen.

Dagegen trifft die gegenüber einem Anleger vor dessen Beitritt zu einer Fondsgesellschaft nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats bestehende und auf den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB beruhende Aufklärungspflicht bei einer Kommanditgesellschaft grundsätzlich gerade die zuvor schon beigetretenen – nicht rein kapitalistisch beteiligten – Gesellschafter, namentlich die Gründungs- bzw. Altgesellschafter. Deren Aufklärungspflicht und die aus einer Verletzung dieser Pflicht ggf. resultierende Haftung auf Schadenersatz besteht auch gegenüber einem über einen Treuhänder beitretenden Anleger, wenn der Treugeber nach dem Gesellschaftsvertrag wie ein unmittelbar beitretender Gesellschafter behandelt werden soll (vgl. BGH, Urt. v. 08.01.2019 - II ZR 139/17 Rn. 23 m.w.N.). Diese Haftung aufgrund der Verwendung eines unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden Prospekts als Mittel der schriftlichen Aufklärung soll durch die spezialgesetzliche Prospekthaftung (gemäß den § 13 VerkProspG, §§ 44 ff. BörsG in der bis zum 31.05.2012 geltenden Fassung) in ihrem Anwendungsbereich nicht ausgeschlossen sein (BGH, Beschl. v. 25.10.2022 - II ZR 22/22).

Diese prima facie unversöhnlichen Positionen galt es zusammenzubringen.

2. Die neue Linie

Um eine Entscheidung durch den Großen Senat für Zivilsachen doch noch zu vermeiden, kam es ausweislich Ziff. 2 der drei Beschlüsse des II. Zivilsenats zu einer Absprache zwischen den im Streit um Konkurrenzen beteiligten Senaten. Danach sollen es die „mit dem Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes (Anlegerschutzverbesserungsgesetz) vom 28. Oktober 2004 (BGBl I S. 2630) geschaffenen spezialgesetzlichen Aufklärungspflichten und das mit ihnen verbundene Haftungsregime … unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs“ rechtfertigen, „eine Neuausrichtung der nach der bisherigen Rechtsprechung des II. Zivilsenats bestehenden allgemeinen Aufklärungspflichten der Altgesellschafter“ vorzunehmen. Eine vorvertragliche Aufklärungspflicht trifft danach nur noch solche Altgesellschafter, die entweder selbst den Vertrieb der Beteiligungen an Anleger übernehmen oder in sonstiger Weise für den von einem anderen übernommenen Vertrieb Verantwortung tragen, weil – so der XI. Zivilsenat in Rn. 7 – der Gründungsgesellschafter dadurch einen zusätzlichen Vertrauenstatbestand setzt.

Vertriebsverantwortung tragen danach, soweit der Vertriebsauftrag von der Fondsgesellschaft erteilt wurde, die geschäftsführungsbefugten Altgesellschafter. Altgesellschafter tragen die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Aufklärung der Beteiligungsinteressenten aber nicht allein deswegen, weil ihr Alleingesellschafter aufgrund eines von der Fondsgesellschaft erteilten Auftrags den Vertrieb der Beteiligungen übernommen hat. Eine personelle Verflechtung eines Altgesellschafters mit der Vertriebsgesellschaft begründet ebenfalls keine Verantwortung für den Vertrieb.

Faktisch wird damit der vom XI. Zivilsenat ausgesprochene umfassende Vorrang der spezialgesetzlichen vor der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung (im weiteren Sinne) bei den Haftungsadressaten im Hinblick auf vertriebsverantwortliche Altgesellschafter aufgeweicht. Gleichzeitig fallen große Teile der bisher nach der vom II. Zivilsenat favorisierten Lösung Haftenden aus dem Regime heraus. Ein klassischer Kompromiss eben. Dieser führt in den drei Besprechungsentscheidungen des II. Zivilsenats dazu, dass zwar die Beklagte zu 1) als geschäftsführende Kommanditistin der Fondsgesellschaft haftet, weil letztere den Vertriebsauftrag an die H. GmbH erteilt hat. Dagegen kann die Beklagte zu 2) als zwar persönlich haftende, allerdings von der Geschäftsführung ausgeschlossene Gesellschafterin der Fondsgesellschaft aufatmen. Obwohl ihre Alleingesellschafterin (die H. GmbH) von der Fondsgesellschaft den Vertriebsauftrag erhalten und in personeller Hinsicht (wohl wieder über Herrn B.) mit der Beklagten zu 2) verflochten ist, soll dies keine „Vertriebsverantwortung“ im obigen haftungsauslösenden Sinn darstellen. Ähnliches gilt für die Beklagte zu 2) im Verfahren XI ZR 60/22 (Rn. 8).

III. Fallstricke

Es ist offensichtlich, dass diese zwar überfällige und pragmatische aber dogmatisch schwierig einzuordnende Einigung mannigfaltige Folgefragen aufwirft, von denen einige hier beleuchtet werden sollen.

1. Umfang der Beschränkung

Zunächst betreffen die Besprechungsentscheidungen lediglich das Verhältnis der spezialgesetzlichen Prospekthaftung nach § 13 VerkProspG, §§ 44 ff. BörsG in der bis zum 31.05.2012 geltenden Fassung zur Haftung der Altgesellschafter wegen der Verletzung von Aufklärungspflichten gemäß den §§ 280 Abs. 1, 3, 282, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die nunmehr vorgenommene Beschränkung der Prospekthaftung im weiteren Sinne auf vertriebsverantwortliche Altgesellschafter (ähnlich wie der vom XI. Zivilsenat ursprünglich postulierte umfassende Vorrang, vgl. dazu BGH, Beschl. v. 14.06.2022 - XI ZR 395/21 Rn. 8) gleichermaßen gegenüber der Haftung nach den §§ 9, 10, 14 WpPG, nach den §§ 20, 21 VermAnlG sowie nach § 306 KAGB gelten soll. Eine in der Literatur kürzlich vorgeschlagene Differenzierung zwischen der investmentrechtlichen Prospekthaftung gemäß § 306 KAGB (§ 127 InvG a.F.) auf der einen Seite und der Prospekthaftung für Vermögensanlagen gemäß § 20 VermAnlG (§ 13 VerkProspG a.F.) und Wertpapiere gemäß § 9 WpPG (§§ 44 ff. BörsG a.F.) auf der anderen Seite (so Poelzig, ZGR 2023, 359, 374) dürfte nicht gewollt sein.

2. Auswirkung auf sonstige Haftungsadressaten der Prospekthaftung im weiteren Sinne

Wichtig ist auch der in Ziff. 1a der drei Beschlüsse des II. Zivilsenats (und in Rn. 6 in der Sache XI ZR 60/22) aufgenommene Verweis auf den „Anwendungsbereich“ der spezialgesetzlichen Prospekthaftung. Nur in diesem Rahmen – also dort, wo sich Spezialgesetz und die althergebrachten Grundsätze überschneiden – kommt eine Konkurrenz in Betracht. Das führt z.B. dazu, dass die hiesige Beklagte zu 2), die als Alt- und Gründungsgesellschafterin eigentlich nach alter Lesart gemäß den §§ 280 Abs. 1, 3, 282, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB gehaftet hätte (vgl. BGH, Urt. v. 08.01.2019 - II ZR 139/17 Rn. 23), nach der neuen Linie nunmehr nicht (mehr) aus Prospekthaftung im weiteren Sinne haftet. Denn sie ist als Prospektveranlasserin des insoweit sperrenden spezialgesetzlichen Regimes (hier § 13 VerkProspG, §§ 44 ff. BörsG a.F.) anzusehen (vgl. BGH, Beschl. v. 14.06.2022 - XI ZR 395/21 Rn. 12) und erreicht die jetzt für eine daneben bestehende Haftung aus den §§ 280 Abs. 1, 3, 282, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB notwendige Stellung als Vertriebsverantwortliche nicht.

Das bedeutet aber wohl im Umkehrschluss, dass all jene Personen, die nicht als spezialgesetzliche Prospektverantwortliche in Frage kommen (zu den Qualifikationskriterien: BGH, Urt. v. 18.09.2012 - XI ZR 344/11 - BGHZ 195, 1 Rn. 35 ff.) und daher nicht in den dortigen Anwendungsbereich fallen, weiterhin grundsätzlich nach den §§ 280 Abs. 1, 3, 282, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB in Anspruch genommen werden könnten und demgemäß auch schärfer in Bezug auf Verschuldensgrad, Verjährung und Rechtsfolgen haften.

3. Weitere Fallbeispiele

a) Zeichnung nach Ablauf der Verjährungsfrist

Zeichnet der Anleger unter Vorlage eines fehlerhaften Prospekts aber nach Ablauf der kenntnisunabhängigen Verjährungsfrist des § 46 BörsG a.F., kommt nunmehr eine Haftung des vertriebsverantwortlichen Altgesellschafters aus allgemeinen Grundsätzen in Betracht. Das bisherige Leerlaufen der Haftung war einer der Kritikpunkte des II. Zivilsenats am vom Schwestersenat postulierten umfassenden Vorrang der spezialgesetzlichen Prospekthaftung (vgl. BGH, Beschl. v. 25.10.2022 - II ZR 22/22 Rn. 46).

b) Zeichnung nach Ablauf der Ausschlussfrist

Zeichnet der Anleger unter den gleichen Bedingungen, indes innerhalb der Verjährungsfrist aber außerhalb der Ausschlussfrist des § 13 Abs. 1 Nr. 1 VerkProspG a.F., § 44 BörsG a.F. von nur sechs Monaten nach dem ersten öffentlichen Angebot der Wertpapiere im Inland, dürfte Gleiches gelten. Der vom XI. Zivilsenat auch für diesen Fall angenommene Vorrang des Spezialgesetzes (vgl. BGH, Beschl. v. 13.12.2022 - XI ZB 10/21) dürfte nicht so weit gehen, dass eine Haftung des vertriebsverantwortlichen Altgesellschafters aus allgemeinen Grundsätzen ausgeschlossen wäre.

c) Zeichnung bei gänzlich fehlendem Prospekt

Gibt es gar keinen Prospekt und kommt daher eine spezialgesetzliche Haftung nach § 13a VerkProspG a.F. in Betracht, wird aber lediglich mündlich fehlerhaft oder gar nicht aufgeklärt, wird es erst recht zu einer Haftung jedenfalls des vertriebsverantwortlichen Altgesellschafters kommen müssen (vgl. BGH, Beschl. v. 25.10.2022 - II ZR 22/22 Rn. 54).

Schwieriger und dogmatisch nicht mehr stimmig wird es in folgenden Konstellationen:

d) Kleinemissionen etc.

Ist nach § 8f Abs. 2 Nr. 3 VerkProspG a.F. die Prospektpflicht – z.B. weil der Verkaufspreis der im Zeitraum von zwölf Monaten angebotenen Anteile insgesamt 100.000 Euro nicht übersteigt oder weil der Preis jedes angebotenen Anteils mindestens 200.000 Euro je Anleger beträgt – und damit auch eine spezialgesetzliche Prospekthaftung mangels Eröffnung deren Anwendungsbereichs ausgeschlossen, bleibt es bei der vollumfänglichen und nicht lediglich auf vertriebsverantwortliche Altgesellschafter beschränkten Haftung nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats. Das hat die weiterhin seltsame (vgl. BGH, Beschl. v. 25.10.2022 - II ZR 22/22 Rn. 56) Folge, dass trotz Einschlägigkeit der Bagatellgrenze (so der Gesetzgeber, BT-Drs. 15/3174, S. 42) strenger gehaftet wird als im geregelten Markt, wo nunmehr – immerhin, aber auch nur – der vertriebsverantwortliche Altgesellschafter in Anspruch genommen werden kann.

e) Prospekt lediglich Arbeitsgrundlage

Ganz schräg wird es bei den in der Praxis gar nicht seltenen Fällen, in denen der fehlerhafte Prospekt zwar keine physische Verwendung im Gespräch findet, sein Inhalt aber wegen der vorausgegangenen Vertriebsschulungen zur Arbeitsgrundlage der Vermittler gemacht wurde und mündlich mitgeteilt wird. Die Prospektfehler, für die der Gründungsgesellschafter als Prospektverantwortlicher nach der spezialgesetzlichen Prospekthaftung einzustehen hat, werden damit auch ursächlich für die mangelnde mündliche Aufklärung, für die er nach der sogenannten Prospekthaftung im weiteren Sinne einzustehen hat. Denn wenn der Prospekt gemäß dem Vertriebskonzept der Fondsgesellschaft von entsprechend geschulten Anlagevermittlern als Arbeitsgrundlage verwendet wird, beschränkt sich eine auf dieser Grundlage erteilte mündliche Aufklärung erfahrungsgemäß auf die Umstände und Risiken, die im Prospekt genannt werden (BGH, Beschl. v. 25.10.2022 - II ZR 22/22 Rn. 55).

In beiden Fällen wird der Prospektfehler also zum Anleger transportiert: Geschieht dies unter tatsächlicher Vorlage des Prospekts, haftet nunmehr lediglich der vertriebsverantwortliche Altgesellschafter aus Prospekthaftung im weiteren Sinne. Wird der Prospekt indes nur inhaltlich mündlich beim Vertrieb der Anlage wiedergegeben, besteht mangels Eröffnung des Anwendungsbereichs der spezialgesetzlichen Prospekthaftung dagegen eine weiter gehende Haftung wegen der Aufklärungspflichtverletzung nach den §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB. Das ist jedenfalls kontraintuitiv (vgl. zur alten Rechtslage BGH, Beschl. v. 25.10.2022 - II ZR 22/22 Rn. 55).

Was in denjenigen Grenzfällen passiert, in denen dem Anlageinteressenten der Prospekt nicht so rechtzeitig vor dem Vertragsschluss (z.B. am Ende des Gesprächs) übergeben wird, dass sein Inhalt noch zur Kenntnis genommen werden kann, ist wohl offen. Denn eigentlich bleibt dann die mündliche Aufklärung allein maßgebend (BGH, Urt. v. 08.01.2019 - II ZR 139/17 Rn. 22; ebenso BGH, Urt. v. 08.05.2012 - XI ZR 262/10 - BGHZ 193, 159 Rn. 21), was für eine Haftung nach den althergebrachten Grundsätzen spricht. Da der Prospekt aber – wenn auch spät – Verwendung fand, könnte auch die neue Linie mit der Beschränkung der Haftung auf den vertriebsverantwortlichen Altgesellschafter greifen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Es ist gut, dass sich die beiden BGH-Senate geeinigt haben und nunmehr auf diesem Gebiet wieder Ruhe einkehren kann. Abgesehen von den oben angesprochenen offenen Detailfragen könnte sich indes eine weitere Schlangengrube auftun: der Umgang mit bereits in die eine oder andere Richtung – aber nach dem jetzigen Kompromiss nunmehr falsch – entschiedenen Altfällen. Die Parallele zu den sog. Schrottimmobilien-Verfahren liegt nahe. Dort hatte der XI. Zivilsenat des BGH zunächst in einem kurz begründeten NZB-Zurückweisungsbeschluss ausgeführt, von „einer arglistigen Täuschung über eine versteckte Innenprovision [könne] hier keine Rede sein“ (BGH, Beschl. v. 23.09.2008 - XI ZR 379/07), und dies in zahlreichen späteren Fällen ebenso gehandhabt. Unter neuem Vorsitz hat der XI. Zivilsenat seine Rechtsprechung sodann gedreht und eine arglistige Täuschung über die Höhe der Vermittlungsprovisionen mittels desselben „Objekt- und Finanzierungsvermittlungsauftrags“ bejaht (BGH, Urt. v. 29.06.2010 - XI ZR 104/08 - BGHZ 186, 96). Das hat das BVerfG bewogen, die Beschlüsse, mit denen die Nichtzulassungsbeschwerden unter Hinweis auf die alte Rechtsprechung zurückgewiesen wurden, wegen Verletzung der Beschwerdeführer in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aufzuheben und die Sachen an den BGH zurückzuverweisen (BVerfG, Beschl. v. 28.06.2012 - 1 BvR 2952/08 - BVerfGK 19, 467).


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