juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 05.02.2024 - 1 AV 1/23
Autor:Dr. Robert Keller, Vors. RiBVerwG
Erscheinungsdatum:22.04.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 17a GVG, § 53 VwGO, § 44 AsylVfG 1992, § 83 VwGO, Art 74 GG, Art 20 GG, § 51 AsylVfG 1992, Art 101 GG, § 52 VwGO
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 8/2024 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Keller, jurisPR-BVerwG 8/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts bei länderübergreifender Verteilung



Leitsatz

In Streitigkeiten betreffend die länderübergreifende Verteilung nach § 51 AsylG bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit auch dann nach § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO, wenn das danach zuständige Verwaltungsgericht einem anderen Land angehört als die Behörde, die nach § 51 Abs. 2 Satz 2 AsylG über den Antrag zu entscheiden hat.



A.
Problemstellung
In der hier anzuzeigenden Entscheidung geht es um die Frage, ob der Anwendungsbereich des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO aus verfassungsrechtlichen Gründen der Einschränkung bedarf. Mit der damit angesprochenen örtlichen Zuständigkeit eines Verwaltungsgerichts hat sich das BVerwG nicht allzu oft zu befassen (vgl. § 83 Sätze 1 und 2 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 GVG); der Anwendungsbereich des § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO, der eine Zuständigkeitsbestimmung durch das BVerwG ermöglicht, ist durch die Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen stark eingeschränkt (vgl. Kopp, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 53 Rn. 8).


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine äthiopische Staatsangehörige, stellte im Juli 2023 einen Asylantrag, über den nach Aktenlage noch nicht entschieden wurde. Nach Aufenthaltsnahme in der Erstaufnahmeeinrichtung in G. wurde sie verpflichtet, ihren Wohnsitz in M. im Kreis M. (Hessen) zu nehmen. Mit Schreiben vom 09.08.2023 beantragte sie ihre Umverteilung nach F. im R.-Kreis (Nordrhein-Westfalen). Mit Bescheid vom 25.10.2023 lehnte der Beklagte den Antrag ab.
Entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung in diesem Bescheid hat die Klägerin beim VG Gießen Klage erhoben, mit der sie die Aufhebung des Bescheids und hilfsweise die Verpflichtung begehrt, sie der Stadt F. zuzuweisen. Gleichzeitig hat sie einen Antrag auf Eilrechtsschutz gestellt (vgl. hierzu die Parallelentscheidung BVerwG, Beschl. v. 06.02.2024 - 1 AV 2/23).
Das VG Gießen hat sich mit Beschluss vom 22.11.2023 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das VG Arnsberg verwiesen. Eine eigene Zuständigkeit ergebe sich nicht aus § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO, weil diese Vorschrift mit Blick auf das sich aus Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Föderalismusprinzip der Bundesrepublik Deutschland dahin gehend verfassungskonform auszulegen sei, dass Streitigkeiten nach dem Asylgesetz, die das Verwaltungshandeln einer Behörde eines anderen Bundeslandes als Landesbehörde beträfen, nicht von § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO umfasst seien. Vielmehr sei das VG Arnsberg gemäß § 52 Nr. 5 VwGO örtlich zuständig.
Das VG Arnsberg hat sich mit Beschluss vom 07.12.2023 ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und dem Verweisungsbeschluss des VG Gießen wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG die Bindungswirkung abgesprochen. Zugleich hat es das BVerwG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts angerufen.
Das BVerwG ist für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem VG Arnsberg und dem VG Gießen gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO zuständig. Nach dieser Vorschrift wird das zuständige Gericht durch das nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn sich verschiedene Verwaltungsgerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Nächsthöheres gemeinsames Gericht ist im Fall eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen Verwaltungsgerichten verschiedener Bundesländer das BVerwG.
Der 1. Revisionssenat hat die Rechtsauffassung des VG Arnsberg bestätigt und die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des VG Gießen verneint.
Die örtliche Zuständigkeit des VG Gießen folgt aus § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat. Nach dieser Sonderregelung kommt es in Asylsachen allein darauf an, wo sich der Asylsuchende aufzuhalten hat (§§ 44 ff. AsylG). Nicht entscheidend ist, wo der Asylsuchende sich tatsächlich aufhält oder aufhalten möchte. Der Wohnsitz des Asylsuchenden ist lediglich dann maßgeblich, wenn nach § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO eine örtliche Zuständigkeit nicht gegeben ist. Nur dann richtet sich die Zuständigkeit gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 2 VwGO nach § 52 Nr. 3 VwGO. Das ist für Fälle bejaht worden, in denen noch kein Zuweisungsbescheid ergangen oder ein ergangener Zuweisungsbescheid widerrufen oder zurückgenommen worden ist. Eine derartige Konstellation ist nicht zu erkennen. Vielmehr war die eine länderübergreifende Umverteilung begehrende Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl. § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG) verpflichtet, ihren Wohnsitz im Zuständigkeitsbereich des VG Gießen zu nehmen.
Eine Zuständigkeit des VG Arnsberg folgt nicht daraus, dass das VG Gießen das Verfahren an das VG Arnsberg verwiesen hat. Ein derartiger Verweisungsbeschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, zwar grundsätzlich – selbst bei Fehlerhaftigkeit – bindend (§ 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG). Die Rechtsprechung des BVerwG nimmt allerdings seit jeher eine Ausnahme hiervon an, wenn der Verweisungsbeschluss unter „extremen“ Rechtsverstößen leidet. Das ist namentlich bei Entscheidungen der Fall, die als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar bezeichnet werden müssen, etwa weil der Rechtsfindung des verweisenden Gerichts nicht die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zugrunde liegen.
So verhält es sich hier. Das BVerwG pflichtet dem VG Arnsberg darin bei, dass die gesetzliche Zuständigkeitsregelung eindeutig ist. Bei der Interpretation einer Norm darf das gesetzgeberische Ziel nicht in wesentlichen Punkten verfehlt oder verfälscht werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11 - BVerfGE 138, 64 Rn. 86 m.w.N.). Die von dem VG Gießen vorgenommene einschränkende Auslegung des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO geht hieran vorbei und ist daher offensichtlich unhaltbar. Die von ihm vertretene Annahme, dass Streitigkeiten nach dem Asylgesetz, die das Verwaltungshandeln der Behörde eines anderen Bundeslandes als Landesbehörde betreffen, nicht von § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO umfasst sein sollen, ist mit der gesetzgeberischen Grundentscheidung, Asylstreitigkeiten an dem in der Norm bezeichneten Verwaltungsgericht zu konzentrieren, nicht zu vereinbaren. Eine einschränkende Auslegung ergibt sich auch nicht aus dem Bundesstaatsprinzip. Örtlich zuständig ist daher das VG Gießen.
Mit dem Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung hat der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 74 Abs. 1 Satz 1 GG Gebrauch gemacht und die örtliche Zuständigkeit in § 52 VwGO abschließend geregelt. Entsprechend ist § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO, der durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 25.07.1978 (BGBl I 1978, 1107) eingefügt wurde, als abschließende Sonderregelung für Streitigkeiten nach dem Asylgesetz zu verstehen. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit dieser Regelung, die örtliche Gerichtszuständigkeit bei Asylsachen zu dezentralisieren. Nicht der Sitz des Bundesamts, sondern allein der Wohnsitz oder Aufenthalt des Asylbewerbers, den dieser in rechtlich zulässiger Weise begründet hat, ist für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts maßgeblich (vgl. BT-Drs. 8/1935, S. 1, 5 f.). Das hiernach bestimmte Gericht soll für alle Streitigkeiten über Verwaltungsakte nach dem Asylrecht zuständig sein, die gegen Asylbewerber getroffen werden, um zu vermeiden, dass unterschiedliche Gerichte über zusammengehörende Maßnahmen entscheiden (vgl. BT-Drs. 9/875, S. 27).
Im Sinne dieser gesetzgeberischen Zielsetzung ist der Begriff der Streitigkeiten nach dem Asylgesetz in § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO weit auszulegen. Erfasst werden sämtliche Rechtsstreitigkeiten, die ihre rechtliche Grundlage im Asylgesetz haben. Geht es um die Anfechtung eines belastenden Verwaltungsakts gegenüber einem Ausländer, ist allein entscheidend, auf welche Rechtsvorschrift die Behörde ihre Maßnahme tatsächlich gestützt hat (BVerwG, Urt. v. 31.03.1992 - 9 C 155/90 - Buchholz 402.25 § 22 AsylVfG Nr 4).
Diesem Verständnis des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO stehen die verfassungsrechtlichen Erwägungen des VG Gießen nicht entgegen. Das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verbietet es nicht grundsätzlich, dass das Verwaltungsgericht eines Landes über Maßnahmen einer Behörde entscheidet, die einem anderen Land angehört. Vielmehr ist dies für die Tätigkeit von Behörden, deren Zuständigkeit sich auf mehrere Verwaltungsgerichtsbezirke erstreckt, in § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO gesetzlich vorgesehen; § 52 Nr. 3 Satz 4 VwGO stellt insoweit nur eine Ausnahmeregelung für die Maßnahmen der in der Vorschrift bezeichneten Behörde dar. Soweit die den föderativen Staatsaufbau berücksichtigende grundsätzliche Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Landesgerichtsbarkeit es ausschließt, dass über die Verwaltungstätigkeit eines Landes im Zusammenhang mit Dienstverhältnissen i.S.d. § 52 Nr. 4 Satz 1 VwGO Gerichte eines anderen Landes befinden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.02.1988 - 2 ER 401/87 - Buchholz 310 § 53 VwGO Nr 15 m.w.N.), lässt sich diese einschränkende Auslegung auf die nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Zwecksetzung eindeutige Regelung des § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ersichtlich nicht übertragen. Die vom VG Gießen schließlich noch herangezogene Zuständigkeitsregelung in § 51 Abs. 2 Satz 2 AsylG betrifft allein die behördliche Zuständigkeit.
Maßgeblich sind hier, wie sich aus dem angefochtenen Ablehnungsbescheid ergibt, Normen des Asylgesetzes, namentlich § 51 AsylG. Somit handelt es sich nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen um eine Streitigkeit i.S.d. § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO. Örtlich zuständig für die gerichtliche Entscheidung über das Umverteilungsbegehren ist allein das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk der Ausländer seinen Aufenthalt zu nehmen hat – hier das VG Gießen –, und nicht das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk der Ausländer umverteilt werden will.


C.
Kontext der Entscheidung
Im Hinblick auf den Entfall der Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen bei extremen Rechtsverstößen knüpft das BVerwG an seine einschlägige Rechtsprechung an (BVerwG, Beschl. v. 10.03.2016 - 6 AV 1/16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr 36 Rn. 4; BVerwG, Beschl. v. 16.06.2021 - 6 AV 1/21 - Buchholz 421.10 Schulrecht Nr 20 Rn. 10). Ein solcher Ausnahmefall liegt vor, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diesen beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschl. v. 16.06.2021 - 6 AV 1/21 - Buchholz 421.10 Schulrecht Nr 20 Rn. 10) oder wenn das verweisende Gericht die herkömmlichen Methoden der Interpretation eines Gesetzestexts, der seine Zuständigkeit normiert, beiseiteschiebt und damit die Bahnen ordnungsgemäßer Rechtsfindung verlässt (BVerwG, Beschl. v. 01.12.1992 - 7 A 4/92 - Buchholz 407.3 VerkPBG Nr 3).
Letzteres war hier anzunehmen. Vor dem Hintergrund der abschließenden Regelung der örtlichen Zuständigkeit durch § 52 VwGO (BVerfG, Beschl. v. 07.05.1974 - 2 BvL 17/73 - BVerfGE 37, 191, 198) ist § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ein weiter Anwendungsbereich beizumessen (vgl. bereits BVerwG, Beschl. v. 27.06.1984 - 9 A 1/84 - Buchholz 310 § 50 VwGO Nr 11 S. 2); die genannte Norm steht auch im Einklang mit der Verfassung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 09.09.1980 - 9 ER 402/80 - Buchholz 310 § 52 VwGO Nr 19).
Das vom BVerwG zugrunde gelegte Verständnis der Norm entspricht im Übrigen der nahezu einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. etwa VGH Mannheim, Urt. v. 02.02.2006 - A 12 S 929/05 - InfAuslR 2006, 293 Rn. 15; Heusch in: BeckOK Ausländerrecht, § 51 AsylG Rn. 16; Kraft in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 52 Rn. 19; Röder in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, § 51 AsylG Rn. 24; im Ergebnis auch Schenk in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: März 2023, § 52 VwGO Rn. 23 f.).
Abschließend weist das BVerwG darauf hin, dass eine Kostenentscheidung in diesem Verfahren nicht veranlasst ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 09.01.2023 - 10 AV 1/23 Rn. 11).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung schafft für eine wohl nicht ganz seltene Fallkonstellation die wünschenswerte Klarheit bei der Bestimmung des örtlich zuständigen Verwaltungsgerichts.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!