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Anmerkung zu:BGH 4. Zivilsenat, Beschluss vom 15.11.2023 - IV ZB 6/23
Autor:Tobias Goldkamp, RA und FA für Erbrecht
Erscheinungsdatum:30.04.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 7 FamFG, § 345 FamFG, Art 103 GG, Art 2 GG, Art 20 GG, § 31 FamFG, § 107 FamFG, § 108 FamFG, § 459 FamFG, § 24 FamFG, § 62 FamFG, § 394 FamFG, § 170 GVG, § 13 FamFG, § 357 FamFG, § 1507 BGB, § 2368 BGB, § 36 GBO, § 37 GBO, § 42 SchRegO, § 74 SchRegO, § 2200 BGB, § 2227 BGB, § 1953 BGB, § 1957 BGB, § 2010 BGB, § 2081 BGB, § 2146 BGB, § 2228 BGB, § 2198 BGB, § 2199 BGB, § 2202 BGB, § 2226 BGB, § 2384 BGB, § 23 GVGEG, § 58 FamFG, § 25 GVGEG, § 26 GVGEG, § 14b FamFG
Fundstelle:jurisPR-FamR 9/2024 Anm. 1
Herausgeber:Andrea Volpp, RA'in und FA'in für Familienrecht
Franz Linnartz, RA und FA für Erbrecht und Steuerrecht
Zitiervorschlag:Goldkamp, jurisPR-FamR 9/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Akteneinsicht eines Unbeteiligten in Nachlassakten



Leitsätze

1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG ist der statthafte Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung des Nachlassgerichts nach § 13 Abs. 7 FamFG über die Nichtgewährung von Einsicht in die Nachlassakten eines abgeschlossenen Verfahrens für einen am Verfahren nicht beteiligten Dritten.
2. Zum berechtigten Interesse auf Akteneinsicht in Nachlassakten eines verfahrensfremden Dritten nach § 13 Abs. 2 FamFG.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung befasst sich mit der Frage, inwieweit ein am Nachlass unbeteiligter Dritter bei einem erteilten Erbschein ein Recht auf Einsicht in die Nachlassakten hat.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Nachlassgericht erteilte der Ehefrau des Erblassers antragsgemäß einen Erbschein, der sie als Alleinerbin ausweist. Eine Kommanditgesellschaft (KG), deren Kommanditist der Erblasser war, beantragte Einsicht in die Nachlassakten. Zur Begründung führte sie aus, die Erbfolge klären zu wollen. Die Ehefrau des Erblassers trat dem entgegen.
Das Nachlassgericht wies das Akteneinsichtsgesuch zurück. Die KG sei keine Beteiligte der Nachlassverfahren. Es fehle ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht, da die Erbfolge dem Erbschein zu entnehmen sei. Bei der Entscheidung handle es sich um einen Justizverwaltungsakt, der mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach den §§ 23 ff. EGGVG angreifbar sei. Die KG beantragte gerichtliche Entscheidung.
Das Oberlandesgericht hob den Beschluss des Nachlassgerichts auf und wies es an, den Antrag auf Akteneinsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts neu zu bescheiden.
Das Oberlandesgericht ließ die Rechtsbeschwerde zu, welche die Ehefrau des Erblassers einlegte.
Der BGH hat die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.
Die Entscheidung über ein Akteneinsichtsgesuch eines am Verfahren unbeteiligten Dritten sei ein durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG zu überprüfender Justizverwaltungsakt, nicht eine durch die Beschwerde nach § 58 FamFG zu überprüfende Endentscheidung.
Das Interesse eines Unbeteiligten an der Akteneinsicht sei berechtigt i.S.d. § 13 Abs. 2 FamFG, sofern es vernünftig und durch die Sachlage gerechtfertigt sei. Neben einem rechtlichen Interesse könnten auch Interessen tatsächlicher Art genügen, etwa wirtschaftliche oder wissenschaftliche. Im Allgemeinen sei das Interesse berechtigt, sofern das künftige Verhalten des Antragstellers durch die Kenntnis des Akteninhalts beeinflusst werden könne. Der Verfahrensgegenstand bilde keine Grenze des berechtigten Interesses. Es genüge, dass Rechte des Antragstellers durch den Streitstoff der Akten mittelbar berührt werden können und Kenntnis des Akteninhalts für ihn zur Rechtsverfolgung oder Forderungsabwehr erforderlich sei.
Liege das berechtigte Interesse vor, sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Zunächst sei zu prüfen, ob ein berechtigtes Interesse dargelegt sei. Im zweiten Schritt sei zu prüfen, ob es glaubhaft (gemacht) sei. Im dritten Schritt sei zu prüfen, ob keine schutzwürdigen Interessen eines Beteiligten oder Dritten entgegenstehen. Im vierten Schritt seien ggf. bestehende unterschiedliche Interessen abzuwägen.
Vorliegend sei ein berechtigtes Interesse glaubhaft dargelegt, da die Einsichtnahme in die Nachlassakten ermögliche, dass die KG eigenständig nachprüfe, wer anstelle des bisherigen Kommanditisten dessen Rechtsnachfolger geworden sei. Der erteilte Erbschein lasse das berechtigte Interesse an der Akteneinsicht unberührt, da im Erbschein getroffenen Feststellungen lediglich Vermutungswirkung und keine Rechtskraftwirkung zukomme.


C.
Kontext der Entscheidung
1. Akteneinsicht des Beteiligten
Ohne weitere Voraussetzungen können die Beteiligten des jeweiligen Nachlassverfahrens (§§ 7, 345 FamFG) die Akte einsehen, „soweit nicht schwerwiegende Interessen eines Beteiligten oder eines Dritten entgegenstehen“ (§ 13 Abs. 1 FamFG).
Da der Anspruch Beteiligter auf Akteneinsicht auch aus den Rechten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; BVerfG, Beschl. v. 31.10.2023 - 1 BvR 571/23 Rn. 21 f.) und auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; Bahrenfuss, FamFG, 3. Aufl. § 13 Rn. 7) folgt, sind nur solche Interessen anderer Beteiligter oder Dritter schwerwiegend genug i.S.d. § 13 Abs. 1 Halbsatz 2 FamFG, die eine Beschränkung der genannten Rechte aufwiegen können.
Zudem ist zu beachten, dass in einem solchen Fall aufgrund des Wortes „soweit“ die Akteneinsicht teilweise zu gewähren ist, sofern eine Beschränkung der Akteneinsicht den schwerwiegenden Interessen anderer Beteiligter oder Dritter ausreichend Rechnung tragen kann.
Zur Prüfung, ob entgegenstehende Interessen vorliegen, hat das Gericht zunächst den Beteiligten sowie solchen Dritten, bei denen ein solches Interesse ernsthaft in Betracht kommt, rechtliches Gehör zu gewähren.
Führen schwerwiegende Interessen zu einer Beschränkung der Akteneinsicht, kann dies durch eine auszugsweise Akteneinsicht oder durch Abdeckung bestimmter Blätter oder Passagen umgesetzt werden. Die Rechte auf rechtliches Gehör und faires Verfahren gebieten dabei, dem Einsehenden den Umfang der Auslassungen zu verdeutlichen. Nur so kann er den Umfang der gewährten Einsicht einordnen und entscheiden, ob er gerichtliche Entscheidung beantragt.
2. Akteneinsicht des Unbeteiligten
Unbeteiligten „kann“ das Gericht Akteneinsicht „nur“ gewähren, „soweit sie ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen und schutzwürdige Interessen eines Beteiligten oder eines Dritten nicht entgegenstehen“ (§ 13 Abs. 2 Satz 1 FamFG). Im Vergleich zur Akteneinsicht eines Beteiligten erfordert die Akteneinsicht des Unbeteiligten also ein berechtigtes Interesse, das glaubhaft zu machen ist (§ 31 FamFG). Zudem genügen für die Versagung oder Beschränkung schutzwürdige Interessen, die nicht das bei Beteiligten erforderliche Schwergewicht erreichen müssen. Des Weiteren ist über die Akteneinsicht des Unbeteiligten nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden („kann […] Einsicht gestattet werden“), während die Entscheidung über die Akteneinsicht Beteiligter gebunden ist („können […] einsehen“).
a) Berechtigtes Interesse
Das Gesetz unterscheidet zwischen einem rechtlichen Interesse (§§ 107 Abs. 4, 108 Abs. 2 Satz 1, 357 Abs. 1, 357 Abs. 2 Satz 1, 459 Abs. 2 FamFG) und einem berechtigten Interesse (§§ 13 Abs. 2 Satz 1, 24 Abs. 2, 62, 394 Abs. 2 Satz 2 FamFG).
Das rechtliche Interesse ist eine Teilmenge des berechtigten Interesses. Ein rechtliches Interesse ist immer berechtigt, während ein berechtigtes Interesse nicht immer rechtlich ist.
b) Kein entgegenstehendes schutzwürdiges Interesse
Das schwerwiegende Interesse i.S.d. § 13 Abs. 1 FamFG ist eine Teilmenge des schutzwürdigen Interesses i.S.d. § 13 Abs. 2 Satz 1 FamFG.
Das entgegenstehende schwerwiegende Interesse markiert zugleich eine Ermessensgrenze für die Akteneinsicht eines Unbeteiligten. Falls ihm, wäre er Beteiligter, die Akteneinsicht nach § 13 Abs. 1 FamFG wegen eines schwerwiegenden entgegenstehenden Interesses zu versagen oder zu beschränken wäre, ist sie ihm auch als Unbeteiligten zu versagen oder zu beschränken. Denn durch § 13 Abs. 2 Satz 1 FamFG soll Dritten kein weiter gehendes Akteneinsichtsrecht eingeräumt werden als Beteiligten.
Das allgemeine Interesse am Schutz der Privatsphäre ist in der Abwägung des Gerichts zu berücksichtigen, lässt jedoch für sich genommen grundsätzlich eine die Akteneinsicht befürwortende Ermessensentscheidung zu. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit grundsätzlich erforderlich ist, zum Schutz der Privatsphäre die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschließen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 GVG; dazu BT-Drs. 16/6308, S. 320). Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist der Schutz der Privatsphäre aus Sicht des Gesetzgebers bedeutend. Zum anderen liefe § 13 Abs. 2 Satz 1 FamFG in der Regel ins Leere, stünde schon dieses allgemeine Interesse der Akteneinsicht entgegen.
c) Alternative Rechte
Eine Grenze des Ermessens ist durch weitere prozessuale und materielle Rechte gezogen, die unabhängig von etwaigen entgegenstehenden schutzwürdigen Interessen Dritter ermöglichen, vom Inhalt bestimmter Aktenbestandteile zu erfahren. In Betracht kommen beispielsweise:
§ 357 Abs. 1 FamFG: Einsicht in eröffnete Verfügung von Todes wegen,
§ 357 Abs. 2 FamFG: Recht, sich eine Ausfertigung des Erbscheins, anderer Zeugnisse (§§ 1507, 2368 BGB, §§ 36, 37 GBO, §§ 42, 74 SchRegO) oder von Beschlüssen über die Ernennung oder Entlassung des Testamentsvollstreckers (§§ 2198 Abs. 2, 2202 Abs. 3, 2200 Abs. 1, 2227 Abs. 1 BGB) erteilen zu lassen, sofern ein rechtliches Interesse an der jeweiligen Ausfertigung glaubhaft gemacht wird (Zorn in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Auf. 2023, § 357 Rn. 18),
§ 1953 Abs. 3 Satz 2 BGB: Einsicht in Ausschlagungserklärung,
§ 1957 Abs. 2 Satz 2 BGB: Einsicht in Anfechtung der Erbschaftsannahme oder Ausschlagung,
§ 2010 BGB: Einsicht des Inventars,
§ 2081 Abs. 2 Satz 2 BGB: Einsicht in Erklärung über die Anfechtung einer Verfügung von Todes wegen,
§ 2146 Abs. 2 BGB: Einsicht in Anzeige des Eintritts der Nacherbfolge,
§ 2228 BGB: Einsicht in Erklärungen über die Bestimmung des Testamentsvollstreckers (§ 2198 Abs. 1 Satz 2 BGB), die Ernennung von Mitvollstreckern oder Nachfolgern (§ 2199 Abs. 3 BGB), die Annahmeerklärung (§ 2202 Abs. 2 BGB) oder die Kündigungserklärung (§ 2226 Satz 2 BGB) des Testamentsvollstreckers,
§ 2384 Abs. 2 BGB: Einsicht in Anzeige über den Verkauf der Erbschaft und den Namen des Käufers.
Dabei ist zu beachten, dass diese Rechte zum einen ein rechtliches Interesse voraussetzen, also mehr als ein berechtigtes Interesse, zum anderen auf die jeweils genannten Dokumente beschränkt sind, also keine vollständige Akteneinsicht vermitteln.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Akteneinsicht eines Unbeteiligten in Nachlassakten genügt grundsätzlich die Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses. Berechtigt ist ein rechtliches Interesse. Alternativ können Interessen tatsächlicher Art genügen, etwa wirtschaftliche oder wissenschaftliche. Im Allgemeinen ist das Interesse berechtigt, sofern das künftige Verhalten des Antragstellers durch die Kenntnis des Akteninhalts beeinflusst werden kann. Der Verfahrensgegenstand bildet keine Grenze des berechtigten Interesses. Es genügt, dass Rechte des Antragstellers durch den Streitstoff der Akten mittelbar berührt werden können und Kenntnis des Akteninhalts für ihn zur Rechtsverfolgung oder Forderungsabwehr erforderlich ist.
Die Entscheidung über die Akteneinsicht trifft das Nachlassgericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Es hat zu prüfen, ob schutzwürdigen Interessen eines Beteiligten oder Dritten entgegenstehen, und ggf. bestehende unterschiedliche Interessen abzuwägen.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Bisher war umstritten, ob die Entscheidung über ein Akteneinsichtsgesuch eines am Verfahren unbeteiligten Dritten ein Justizverwaltungsakt ist, der durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG überprüfbar ist, oder eine Endentscheidung, die durch die Beschwerde nach § 58 FamFG überprüfbar ist. Der BGH entscheidet den Streit zugunsten der erstgenannten Variante des Justizverwaltungsakts.
Für das Verfahren gelten ergänzend zu den §§ 25 ff. EGGVG die Vorschriften des FamFG (BGH, Beschl. v. 17.03.2016 - IX AR (VZ) 1/15 Rn. 15).
Zuständig für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist grundsätzlich das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das ablehnende Nachlassgericht liegt (§ 25 Abs. 1 EGGVG), wobei landesrechtliche Vorschriften die Zuständigkeit abweichend festlegen können (§ 25 Abs. 2 EGGVG; in Bayern ist gemäß Art. 12 Nr. 3 BayAGGVG das BayObLG zuständig).
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle zu stellen (§ 26 Abs. 1 EGGVG).
Zur Niederschrift der Geschäftsstelle kann er beim zuständigen Gericht oder jedem Amtsgericht gestellt werden. Schriftlich kann er nur beim zuständigen Gericht gestellt werden (OLG Hamburg, Beschl. v. 05.05.2020 - 2 VA 2/20 Rn. 11).
Wird der Antrag nicht zur Niederschrift gestellt, haben Rechtsanwälte, Notare, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts ihn dem zuständigen Gericht als elektronisches Dokument zu übermitteln (§ 14b Abs. 1 Satz 1 FamFG; vgl. BayObLG, Beschl. v. 28.04.2023 - 101 VA 162/22 Rn. 40; BGH, Beschl. v. 07.12.2022 - XII ZB 200/22 Rn. 8).



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