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Anmerkung zu:BVerfG 1. Senat, Urteil vom 09.04.2024 - 1 BvR 2017/21
Autor:Dr. Marko Oldenburger, RA, FA für Familienrecht und FA für Medizinrecht
Erscheinungsdatum:14.05.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1599 BGB, Art 6 GG, § 1600 BGB, § 1600b BGB
Fundstelle:jurisPR-FamR 10/2024 Anm. 1
Herausgeber:Andrea Volpp, RA'in und FA'in für Familienrecht
Franz Linnartz, RA und FA für Erbrecht und Steuerrecht
Zitiervorschlag:Oldenburger, jurisPR-FamR 10/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Rechtsprechungsänderung zur Elternschaft leiblicher Väter



Leitsätze

1. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gibt im Einzelnen weder vor, welche Personen als Eltern Träger des Elterngrundrechts und Inhaber der Elternverantwortung sind, noch die von den Eltern zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung benötigten Handlungsmöglichkeiten. Beides bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der dabei die das Elternrecht i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG prägenden Strukturmerkmale beachten muss.
2. Im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht kann der Gesetzgeber die Festlegung derjenigen Personen, die Eltern i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind, sowohl auf der Statusebene rechtlicher Elternschaft als auch bei dem Innehaben von Elternverantwortung durch eine entsprechende Zuordnung im Fachrecht begründen. Unabhängig von einer fachrechtlichen Zuordnung sind jedenfalls die leiblichen Eltern eines Kindes Eltern i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
3. Eltern i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG muss es grundsätzlich möglich sein, Elternverantwortung für ihre Kinder erhalten und ausüben zu können. Das gibt nicht zwingend vor, das Innehaben von Elternverantwortung und die Anzahl der Träger des Elterngrundrechts von vornherein auf zwei Elternteile zu beschränken; Träger können daher auch Mutter, leiblicher Vater und rechtlicher Vater nebeneinander sein (anders noch BVerfGE 108, 82 <102 ff.>; 133, 59 <78 Rn. 52>). Aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgt aber schon aufgrund seiner Kindeswohlorientierung eine enge Begrenzung der Zahl der Elternteile (insoweit Fortführung von BVerfGE 108, 82 <103>).
4. Sieht der Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht eine rechtliche Elternschaft von drei Elternteilen i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vor, ist er nicht gehalten, allen diesen Elternteilen gleiche Rechte im Verhältnis zu ihrem Kind einzuräumen, sondern er kann die jeweilige Rechtsstellung der Elternteile differenzierend ausgestalten.
5. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert einem leiblichen Vater die Möglichkeit, auch rechtlicher Vater seines Kindes zu werden. Schließt das Fachrecht - verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt zulässig - eine rechtliche Vaterschaft von mehr als einem Vater aus, muss dem leiblichen Vater ein hinreichend effektives Verfahren zur Verfügung stehen, das ihm die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft ermöglicht. Dem Elterngrundrecht des leiblichen Vaters wird nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn dabei seine gegenwärtige oder frühere sozial-familiäre Beziehung zum Kind, das frühzeitige und konstante Bemühen um die rechtliche Vaterschaft oder der Wegfall einer sozial-familiären Beziehung des Kindes zu seinem bisherigen rechtlichen Vater nicht berücksichtigt werden können.



A.
Problemstellung
Besteht nicht nur eine rechtliche Vaterschaft eines nicht leiblichen Vaters, sondern zudem auch eine sozial-familiäre Beziehung zwischen ihm und dem Kind, ist eine Anfechtung durch den leiblichen Vater (§§ 1599 ff. BGB) gemäß § 1600 Abs. 2, 3 BGB nicht möglich. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 hatte das BVerfG zu diesem gesetzlichen Ausschluss ausgeführt, dass Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu entnehmen sei, dass sich die leibliche stets gegenüber der rechtlichen Elternschaft durchsetzen müsse. Die Grundrechtsnorm gewähre kein Recht des leiblichen Vaters, in jedem Fall vorrangig vor dem rechtlichen Vater die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten und diesen damit aus seiner Vaterposition zu verdrängen (BVerfG, Beschl. v. 09.04.2003 - 1 BvR 1493/96, 1 BvR 1724/01 - NJW 2003, 2151, 2154). Dass der Gesetzgeber mit § 1600 Abs. 2, 3 BGB dem rechtlichen, nicht leiblichen, Vater bei bestehender sozial-familiärer Beziehung einen Vorrang eingeräumt hat, akzeptierte das BVerfG seinerzeit unter Hinweis darauf, dass mit der andernfalls eintretenden rechtlichen Neuzuordnung der Zusammenhalt des bisherigen Familienverbands, in dem das Kind lebt, durch die Auflösung der Rechtsbeziehungen seiner Mitglieder beeinträchtigt würde. Aus der Divergenz von rechtlicher Zuordnung und sozial-familiärer Beziehung könnten Konflikte entstehen, die einerseits eine Erziehung des Kindes zu seinem Wohl gefährdeten und andererseits dem Kind die Orientierung erschwerten, zu wem es gehört.
Ob diese Auffassung in Anbetracht neuerer Erkenntnisse aufrechterhalten werden kann, musste das BVerfG anlässlich einer Verfassungsbeschwerde eines leiblichen Vaters entscheiden, welchem vom Oberlandesgericht trotz erheblicher eigener Bemühungen, Elternstelle zu werden, ausschließlich wegen einer sozial-familiären Beziehung zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung zum rechtlichen Vater der Zugang zum Elternrecht verweigert wurde.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Eine Mutter von fünf Kindern wurde von ihrem Lebensgefährten, mit dem sie zusammenlebte, schwanger. Nach der Geburt trennten sie sich. Das Kind blieb bei der Mutter. Der leibliche Vater versuchte, seine Vaterschaft durch Anerkennung mit Zustimmungserklärung der Mutter einzurichten. Die Mutter erteilte ihre Zustimmung jedoch nicht. Daraufhin stellte er einen gerichtlichen Feststellungsantrag. Einen Monat nach Antragstellung erkannte der neue Lebensgefährte der Mutter (mit ihrer Zustimmung) die Vaterschaft an, obwohl er, was alle wussten, nicht leiblicher Vater des Kindes ist. Nach Einholung eines genetischen Abstammungsgutachtens wurde die Vaterschaft des Lebensgefährten vom Familiengericht aufgehoben und jene des leiblichen Vaters festgestellt (AG Halle (Saale), Beschl. v. 19.05.2021 - 26 F 1064/20 AB). Auf die Beschwerde von Mutter und rechtlichem Vater hob das Oberlandesgericht die Entscheidung auf und wies den Anfechtungsantrag des leiblichen Vaters zurück (OLG Naumburg, Beschl. v. 28.07.2021 - 8 UF 95/21 - NZFam 23, 664). Dagegen legte er Verfassungsbeschwerde ein.
Das BVerfG hat die Entscheidung des OLG Naumburg aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über den Anfechtungsantrag zurück an das Oberlandesgericht verwiesen.
In § 1600 Abs. 2, 3 BGB sei nicht vorgesehen, Bemühungen des leiblichen Vaters, Elternverantwortung zu tragen, wertend einzubeziehen. Damit bestehe kein effektives Verfahren, Elternstelle zu werden. Das sei aber verfassungsrechtlich erforderlich, da der leibliche Vater Träger des Elterngrundrechts i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sei. Habe er gezeigt, Elternverantwortung übernehmen zu wollen (oder diese bereits schon getragen), müsse er diese Position auch erhalten können.
Eine rückbezogene Bewertung einer sozial-familiären Beziehung zum rechtlichen oder leiblichen Vater sei aus fachrechtlicher Sicht ausgeschlossen (BGH, Beschl. v. 24.03.2021 - XII ZB 364/19 - NJW 2021, 1875). Es sei zwar denkbar, dass eine am Schluss der (letzten) mündlichen Verhandlung vorliegende sozial-familiäre Beziehung zu einem nur rechtlichen Vater schützenswert(er) sei und der Gesetzgeber diese insoweit dem leiblichen Vater vorziehen könne; die aktuelle Rechtslage stelle dem leiblichen Vater aber jedenfalls dann kein effektives Verfahren zur Verfügung, Elternstelle zu werden, wenn dessen eigene Bemühungen, Elternstelle zu werden, unberücksichtigt blieben.
Derzeit können im Anfechtungsverfahren weder seine eigene sozial-familiäre Beziehung noch Bemühungen, Elternverantwortung zu tragen, wertend einbezogen werden. Entfalle eine die Anfechtung versperrende sozial-familiäre Beziehung zum rechtlichen Vater später, bestehe für ihn zudem auch dann keine Möglichkeit, in die rechtliche Elternstellung zu gelangen. Das BVerfG fordert deshalb, durch eigenes Verhalten auf die Voraussetzungen des § 1600 Abs. 2 Alt. 1 BGB Einfluss nehmen zu können und damit das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG mit der Elternverantwortung zu harmonisieren. Elternschaft könne nicht von Zufällen und zeitlichen Abläufen abhängen, sie könne auch nicht allein dem Willen der Mutter unterfallen. Mit jedem gesetzlich zugelassenen Wettlauf um die rechtliche Vaterstellung verletze der Gesetzgeber seine Pflicht zu einer verfassungskonformen Ausgestaltung abstammungsrechtlicher Zuordnungen. Er müsse demgegenüber grundsätzlich gewährleisten, dass leibliche Väter ihre Elternverantwortung auch wahrnehmen können. Ihm stehe es dazu frei, neben dem rechtlichen Vater auch den leiblichen Vater als Elternstelle einzurichten. Denn den Begriff Eltern definiere Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht, beschränke ihn insbesondere nicht auf eine Mutter und einen Vater, weshalb bestimmt werden müsse, welche Personen Träger des Elterngrundrechts sein sollen.
Der Gesetzgeber ist nun verpflichtet, bis zum 30.06.2025 eine verfassungskonforme Regelung herbeizuführen.


C.
Kontext der Entscheidung
Das BVerfG eröffnet dem Gesetzgeber mit der aktuellen Entscheidung die Möglichkeit, die Anerkennung auch des leiblichen Vaters neben dem rechtlichen Vater als weitere Elternstelle vorzunehmen. Wird eine erweiterte Elternschaft von drei Personen nicht gewählt, worauf Justizminister Buschmann bereits in einer Presserklärung hingewiesen hat, sondern möchte die Bundesregierung an einer Zwei-Elternschaft festhalten, muss dem leiblichen Vater allerdings ein effektives Verfahren zur Erlangung seiner rechtlichen Elternschaft zur Verfügung gestellt werden. Die idealtypische Kombination von leiblicher und rechtlicher Elternschaft bedingt dazu in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 09.04.2003 - 1 BvR 1493/96, 1 BvR 1724/01 - NJW 2003, 2151, 2154) nunmehr, im Zweifel einen Vorrang des leiblichen Elternteils anzunehmen und bei vergleichbarer Verantwortungsübernahme die nur rechtliche Vaterschaft zu seinen Gunsten zu verändern. Das stellt einen Paradigmenwechsel in der Statuszuordnung aus verfassungsrechtlicher Sicht dar.
Bereits in einer vorherigen Kammerentscheidung hatte das BVerfG ein effektives Verfahren gefordert und dazu auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen, in die Bewertung eigene Bemühungen des leiblichen Vaters und dessen eigene sozial-familiäre Beziehung zu einem früheren Zeitpunkt oder jene, ggf. noch fehlende, zum Zeitpunkt der Antragstellung zum rechtlichen Vater einzubeziehen (BVerfG, Beschl. v. 25.09.2018 - 1 BvR 2814/17 - NZFam 2018, 1141). Da eine rückbezogene Bewertung jedoch aus – vom BVerfG nicht beanstandeter – fachrechtlicher Sicht ausgeschlossen ist (BGH, Beschl. v. 24.03.2021 - XII ZB 364/19 - NJW 2021, 1875), fehlt die erforderliche Effektivität des Anfechtungsverfahren. Die Bemühungen der Instanzgerichte, nach der Kammerentscheidung den leiblichen Vater in seine Elternposition zu bringen (OLG Hamburg, Beschl. v. 04.09.2019 - 12 UF 82/17 - NJW-RR 2019, 1286; OLG Schleswig, Beschl. v. 23.03.2021 - 15 UF 148/20; OLG Frankfurt, Beschl. v. 08.07.2019 - 1 UF 1/19 - NZFam 2019, 887), wurden zwar vom BGH als unzulässig kritisiert, vom Ergebnis her betrachtet stehen sie aber mit der nunmehrigen Entscheidung des Senats auf einer Linie.
Der Gesetzgeber muss nun den Vorgaben des BVerfG entsprechen. Er ist verpflichtet, die Bemühungen zur Verantwortung des leiblichen Elternteils der sozial-familiären Beziehung des rechtlichen Vaters gegenüberzustellen und ggf. den rechtlichen Vater aus seiner Position zu entfernen. Darüber hinaus muss er bei fehlenden ausreichenden Bemühungen einer Verantwortungsübernahme des leiblichen Vaters sicherstellen, dass beim späteren Wegfall einer sozial-familiären Beziehung zum rechtlichen Vater der leibliche Vater dann in seine Elternposition gelangen kann.
Die vom BVerfG durchgängig erläuterte Möglichkeit der erweiterten Elternschaft würde Zuordnungsprobleme und -abwägungen lösen, denkbare Optionen sind bereits in den Entscheidungsgründen für den Gesetzgeber dargelegt. Als Lösungen könnten neben der vom BVerfG betonten Mehrelternschaft ein Zustimmungsvorbehalt des leiblichen Vaters bei der Anerkennung oder ein genereller abstammungsrechtlicher Vorrang des leiblichen Vaters (außerhalb des Sorgerechts), d.h. Streichung der § 1600 Abs. 2, 3 BGB, diskutiert werden.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das BVerfG hat infolge der Unvereinbarkeit (nicht: Verfassungswidrigkeit) von § 1600 Abs. 2, 3 BGB mit dem Grundgesetz dessen Fortgeltung längstens bis zum 30.06.2025 angeordnet. Bis zur Neuregelung können Putativväter (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB) in anhängigen Anfechtungsverfahren Aussetzungsanträge stellen. Das Antragsrecht tritt insoweit an die Stelle einer Aussetzungspflicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.12.2002 - 2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00 - BVerfGE 107, 27, 58).
Im Hinblick auf die Anfechtungsfrist des § 1600b Abs. 1 BGB ist es daher ratsam, ggf. fristwahrend einen Anfechtungsantrag zu stellen und sogleich die Aussetzung des Verfahrens zu beantragen. Zudem sollten leibliche, noch nicht rechtliche Väter ihre Bemühungen fortsetzen, Elternverantwortung zu tragen, um später keine Nachteile zu erleiden.



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