juris PraxisReporte

Anmerkung zu:OLG Frankfurt 1. Zivilsenat, Urteil vom 27.07.2023 - 1 U 6/21
Autor:Frank Götsche, RiOLG
Erscheinungsdatum:19.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1666 BGB, § 839 BGB, Art 34 GG, § 1833 BGB, § 1915 BGB, § 56 SGB 8
Fundstelle:jurisPR-FamR 19/2023 Anm. 1
Herausgeber:Andrea Volpp, RA'in und FA'in für Familienrecht
Franz Linnartz, RA und FA für Erbrecht und Steuerrecht
Zitiervorschlag:Götsche, jurisPR-FamR 19/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Fremdunterbringung wegen Elternkonflikt



Leitsatz

Haftung des Jugendamts als Amtspfleger bei unangemessener Fremdunterbringung eines Kindes.



A.
Problemstellung
Unter welchen Voraussetzungen kann das als Amtspfleger eingesetzte Jugendamt sich bei einer Fremdunterbringung des Kindes schadensersatzpflichtig machen?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das betroffene, bei seiner Mutter lebende Kind wurde mit etwa sechs Jahren am 30.11.2016 vom Jugendamt in Obhut genommen und in einem Kinderheim untergebracht, nachdem es Schläge durch seine Mutter erfahren hatte. Die gemeinsamen sorgeberechtigten, getrenntlebenden, jedoch grundsätzlich erziehungsgeeigneten Eltern sind hochgradig zerstritten. Sie erteilten zunächst ihre Zustimmung, widerriefen diese wenige Tage später. Am 01.12.2016 entzog das Familiengericht im Eilverfahren den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht und übertrug dies auf das Jugendamt als Pfleger; dem lag u.a. eine sachverständige Empfehlung der Fremdunterbringung zugrunde. In der Verhandlung am 11.01.2017 wies der Sachverständige in Übereistimmung mit dem Jugendamt darauf hin, dass im Kinderheim (unstreitig) nicht kindeswohlgerechte Zustände vorherrschen würden und dass das Kind auch bei einem Elternteil untergebracht werden könne, wenn parallel Familienhilfe und therapeutische Behandlung in Anspruch genommen würden. Mit weiterer Eilentscheidung vom 08.02.2017 bestätigte das Familiengericht die Entzugsentscheidung vom 01.12.2016.
Im nachfolgenden Beschwerdeverfahren vor dem OLG Frankfurt wurde das Kind nach Aussetzung der Vollziehung drs Entscheidung des Familiengerichts am 15.04.2017 herausgegeben, zunächst an die Mutter und später an den mittlerweile alleinig sorgeberechtigten Vater, wo das Kind weiterhin lebt.
Vater und Kind machen geltend, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes bei der Inobhutnahme pflichtwidrig gehandelt hätten. Sie begehren vom Land die Zahlung eines Schmerzensgeldes für jeden Monat der Trennung i.H.v. (insgesamt) 14.000 Euro monatlich.
Das Landgericht wies die Klage ab und begründete dies im Wesentlichen damit, dass ein amtspflichtwidriges Vorgehen der Mitarbeiter der Beklagten nicht dargelegt worden sei. Durch die familiengerichtliche Entscheidung vom 01.12.2016 sei eine neue Kausalkette in Gang gesetzt worden, welche die Inobhutnahme durch das Jugendamt der Beklagten überholt habe.
Das OLG Frankfurt hat der hiergegen gerichteten Berufung von Vater und Kind nur teilweise stattgegeben (insb. 3.000 Euro immaterieller Schadensersatz sowie Feststellung des Ersatzes eventueller Zukunftsschäden) und sie im Übrigen weitgehend zurückgewiesen.
Die Inobhutnahme sei anfangs angesichts der Entscheidung des Familiengerichts nicht schuldhaft erfolgt, auch habe das Jugendamt weder unzureichend beraten noch sachwidrige Anträge gestellt. Pflichtwidrig habe dagegen das Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht über den 11.01.2017 hinaus zugunsten einer Fremdunterbringung des Kindes ausgeübt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte das Kind bei seinem Vater bei gleichzeitiger Unterstützung durch das Jugendamt untergebracht werden können. Dem zur Rechtfertigung der Unterbringung im Kinderheim herangezogenen Aspekt des heftigen und langwierigen Streits der Eltern sei kein hinreichendes Gewicht beizumessen, weil dies lediglich zu einer kurzfristigen Fremdunterbringung zwecks Beruhigung der Belastungssituation des Kindes berechtigt hätte. Aufgrund der Belegungssituation in dem Kinderheim, die selbst die Amtspflegerin als „aktuell nicht mehr allzu kindeswohlgerecht“ ansah, der wenig befriedigenden Schulsituation und dem mittlerweile bei dem Kind in den Vordergrund getretenen Wunsch, in die Familie zurückzukehren, musste sich dem Jugendamt aufdrängen, dass der Sinn der Fremdplatzierung verfehlt würde.
Soweit nach der sog. Kollegialgerichtsrichtlinie einem Amtsträger kein Schuldvorwurf gemacht werden könne, wenn sein Verhalten von einem mit Berufsrichtern besetzten Kollegialgericht als rechtmäßig beurteilt werde, entlaste dies nicht, weil das Landgericht als Vorinstanz zum Oberlandesgericht zu der hier maßgeblichen Frage der Aufrechterhaltung der Fremdplatzierung durch das Jugendamt als Ergänzungspfleger nicht Stellung genommen habe.


C.
Kontext der Entscheidung
1. Elternkonflikt und Kindeswohlgefährdung
Es ist zunehmend Lebenswirklichkeit geworden, dass Kinder getrenntlebender Eltern in Streitigkeiten um den Lebensmittelpunkt und das Umgangsrecht verstrickt und dadurch – auch schwer – belastet werden. Dies kann Anlass geben zu einer einstweiligen Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an einen Elternteil oder zu vorläufigen adäquaten Umgangsregelungen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.03.2016 - 9 UF 142/15 - NJW-Spezial 2016, 422).
Die Beeinflussung des Kindes durch einen Elternteil und die dadurch bei dem Kind hervorgerufene Verweigerungshaltung gegenüber dem anderen Elternteil genügt für sich genommen regelmäßig nicht, um eine Fremdunterbringung des Kindes zu veranlassen. Anderenfalls würde durch das Fehlverhalten eines Elternteils das Kind von beiden Elternteilen getrennt werden. Wenn ein massiver Elternkonflikt aber zu erheblichen Schädigungen und Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Suizidgedanken bei dem Kind geführt hat, gibt dies Anlass zu einer Sorgerechtsmaßnahme nach § 1666 BGB (BGH, Beschl. v. 26.10.2011 - XII ZB 247/11 - FamRZ 2012, 99). Zur Beruhigung der Belastungssituation des Kindes kann dies auch einen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und die kurzfristige Fremdunterbringung des Kindes durch das Jugendamt als Ergänzungspfleger rechtfertigen, die jedoch auf die schnellstmögliche Rückführung des Kindes zu einem Elternteil abzielen muss (BVerfG, Beschl. v. 22.09.2014 - 1 BvR 2108/14 - FamRZ 2015, 208).
2. Entscheidungszuständigkeit des Jugendamtes
Wird das Jugendamt mit der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts Ergänzungspfleger des Kindes, muss es den Aufenthalt des Kindes bestimmen. Dabei ist das Jugendamt nicht auf bestimmte (möglicherweise vom Familiengericht in Betracht gezogene) Maßnahmen beschränkt, sondern hat orientiert am Kindeswohl eigene sachgemäße Entscheidungen zu treffen. Denn eine Anordnungskompetenz des Familiengerichts gegenüber dem Jugendamt besteht nicht (OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.07.2023 - 9 UF 111/23). Das Familiengericht entscheidet – vereinfacht gesagt – also allein über die Frage, wer das Sorgerecht oder Teile davon ausübt, nicht aber wie dies auszuüben ist. Dies gilt auch, wenn – wie im vorliegenden Fall – das Familiengericht den Entzug der (Teilbereiche der) elterlichen Sorge in weiteren Entscheidungen bestätigt.
3. Schadensersatz bei unberechtigter Fremdunterbringung
Bei der Unterbringung des Kindes sind sämtliche in Betracht kommenden Unterbringungsmöglichkeiten kindeswohlgerecht abzuwägen. Von mehreren gleich gut geeigneten Mitteln muss das das Elternrecht und das Kindeswohl am wenigsten beeinträchtigende Mittel gewählt werden. Insbesondere dürfen die Folgen der Fremdunterbringung für das Kind nicht gravierender sein als die Folgen eines Verbleibs in der Herkunftsfamilie. Eine Fremdunterbringung ist also nicht zwingend (und ohnehin nur ausnahmsweise angezeigt), vielmehr kann der eingesetzte Ergänzungspfleger das Kind auch bei einem der Elternteile oder einem Verwandten unterbringen (vgl. den Sachverhalt bei BVerfG, Beschl. v. 27.11.2020 - 1 BvR 836/20 - FamRZ 2021, 753).
Schuldhafte Verletzungen dieser Auswahlentscheidung können eine Haftung wegen Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG oder gemäß den §§ 1833, 1915 BGB i.V.m. § 56 Abs. 1 SGB VIII begründen (BGH, Urt. v. 04.12.2013 - XII ZR 157/12 - NJW 2014, 692). Die unberechtigten Fremdunterbringung kann das Kind in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzen und einen Geldanspruch rechtfertigen, wenn dies schwerwiegend ist und nicht anders als durch eine Geldentschädigung befriedigend ausgeglichen werden kann.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die fortbestehende Notwendigkeit einer Fremdunterbringung muss praktisch ständig geprüft werden. Eine zwar zunächst gerechtfertigte, dann aber unberechtigt gewordene und zu lange aufrecht erhaltene Fremdunterbringung kann Schadensersatzansprüche hervorrufen. Jedoch wird dies eine bestimmte Dauer der pflichtwidrigen Fremdunterbringung voraussetzen, die hier aber bei etwa drei Monaten (Mitte Januar bis Mitte April) erreicht ist.
Das Verschulden des Jugendamtes im konkreten Fall lag darin, dass es offenbar ab Mitte Januar 2017 selbst von einer nunmehr ungerechtfertigten Fremdunterbringung (Kinderheim) ausging, gleichwohl aber nicht die schnellstmögliche Rückführung zu einem Elternteil veranlasst hat. Anderenfalls wäre ein Verschulden kaum feststellbar, weil das Familiengericht nochmals im Februar 2017 den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und damit erneut eine von den Eltern ausgehende Kindeswohlgefährdung bestätigt hatte.



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