juris PraxisReporte

Anmerkung zu:EuGH 3. Kammer, Urteil vom 07.09.2023 - C-590/21
Autor:Prof. Dr. Reinhold Thode, RiBGH a.D.
Erscheinungsdatum:09.02.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 929 ZPO, EGV 44/2001, EUV 1215/2012
Fundstelle:jurisPR-IWR 1/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Universität Bielefeld
Zitiervorschlag:Thode, jurisPR-IWR 1/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Versagung der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten durch den Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund des Einwands eines Ordre-public-Verstoßes



Tenor

Art. 34 Nr. 1 i.V.m. Art. 45 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung versagen kann, wenn diese Entscheidung insofern die Fortsetzung eines bei einem anderen Gericht des ersten Mitgliedstaats anhängigen Verfahrens erschwert, als sie einer der Parteien eine vorläufige finanzielle Entschädigung für die Kosten zuspricht, die ihr durch das Betreiben des in Rede stehenden Verfahrens entstehen, und zwar mit der Begründung, dass zum einen der Gegenstand dieses Verfahrens von einem Vergleich erfasst werde, der ordnungsgemäß geschlossen und von demjenigen Gericht des Mitgliedstaats, das die fragliche Entscheidung erlassen habe, gebilligt worden sei, und dass zum anderen das Gericht des ersten Mitgliedstaats, bei dem das streitige Verfahren eingeleitet worden sei, in Ansehung einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei.



A.
Problemstellung
Der EuGH hatte aufgrund der Vorlage eines griechischen Gerichts über die Auslegung des Art. 34 Nr. 1 Brüssel I-VO i.V.m. Art. 45 Abs. 1 Brüssel I-VO darüber zu entscheiden, ob der Vollstreckungsmitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats mit dem Einwand des ordre public versagen kann, unter den Voraussetzungen, die im Tenor ausgeführt worden sind.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 34 Nr. 1 und 45 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl Nr. 2001, L 12, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem die Charles Taylor Adjusting Ltd (im Folgenden: Charles Taylor) und FD, die die Versicherer eines Seeschiffs mit dem Namen Alexandros T. vertreten, der Starlight Shipping Co. (im Folgenden: Starlight) und der Overseas Marine Enterprises Inc. (im Folgenden: OME) gegenüberstehen, die Eigentümer bzw. Betreiber des fraglichen Schiffes sind. Der Rechtsstreit betrifft die Anerkennung und Vollstreckung eines Urteils und zweier Beschlüsse des High Court of Justice (England & Wales) in Griechenland.
I. Am 03.05.2006 sank das Schiff Alexandros T. mitsamt seiner Ladung vor der Bucht von Port Elizabeth (Südafrika). Die Gesellschaften Starlight und OME waren Eigentümer bzw. Betreiber dieses Schiffs und forderten von den Versicherern des Schiffs eine Entschädigung aus vertraglicher Haftung wegen des Eintritts des versicherten Schadensfalls.
In Anbetracht der Weigerung der Versicherer, diese Entschädigung zu zahlen, erhob Starlight im selben Jahr im Vereinigten Königreich Klage gegen sie und beantragte ein Schiedsverfahren gegen einen dieser Versicherer. Während die Verfahren, die diese Klage und dieses Schiedsverfahren betrafen, noch anhängig waren, schlossen Starlight, OME und die Schiffsversicherer Vergleiche, mit denen die Verfahren zwischen den Parteien beendet wurden. Die Versicherer zahlten wegen des Eintritts des versicherten Schadensfalls innerhalb einer vereinbarten Frist die in den Versicherungsverträgen vorgesehene Entschädigung zur Abgeltung sämtlicher im Zusammenhang mit dem Verlust des Schiffs stehender Ansprüche.
Die Vergleiche wurden am 14.12.2007 und am 07.01.2008 im Vereinigten Königreich von dem Gericht, bei dem die Klage anhängig war, gebilligt. Das Gericht ordnete an, alle weiteren Verfahren auszusetzen, die die fragliche Rechtssache betreffen und sich aus demselben Klagebegehren ergeben.
Nach Abschluss dieser Vergleiche erhoben Starlight und ΟΜΕ sowie die weiteren Eigentümer des Schiffes Alexandros T. und natürliche Personen, die sie gesetzlich vertreten, vor dem Kollegialgericht erster Instanz Piräus, Griechenland mehrere neue Klagen, darunter die vom 21.04.2011 und vom 13.01.2012. Diese Klagen richteten sich namentlich gegen Charles Taylor, eine Beratungsgesellschaft für Rechts- und Technikfragen, die die Versicherer dieses Schiffs gegen die von Starlight vor dem in vorstehend genannten Gericht geltend gemachten Ansprüche verteidigt hatte, sowie gegen FD, den Geschäftsführer dieser Beratungsgesellschaft. Mit diesen neuerlichen Klagen begehrten Starlight und ΟΜΕ den Ersatz sowohl materieller als auch immaterieller Schäden, die sie aufgrund sie betreffender falscher und verleumderischer Behauptungen der Versicherer des Schiffs und deren Vertreter erlitten hätten. Starlight und ΟΜΕ machten geltend, dass die Verrichtungsgehilfen und Vertreter der Versicherer, als das ursprüngliche Verfahren auf Zahlung der von den Versicherern geschuldeten Entschädigung noch anhängig gewesen und die Zahlung der Versicherungssumme von ihnen noch verweigert worden sei, gegenüber der Griechischen Nationalbank, der Hypothekengläubigerin einer der Eigentümer des gesunkenen Schiffs, sowie insbesondere auf dem Versicherungsmarkt das falsche Gerücht in Umlauf gebracht hätten, dass der Untergang des Schiffs Alexandros T. auf dessen schwerwiegende Mängel zurückzuführen sei, die seinen Eigentümern bekannt gewesen seien.
Während die Verfahren, die die genannten neuerlichen Klagen zum Gegenstand hatten, anhängig waren, erhoben die Versicherer des Schiffs und ihre Vertreter, darunter namentlich die in diesen Rechtssachen beklagten Charles Taylor und FD, vor englischen Gerichten Klage gegen Starlight und ΟΜΕ und beantragten, festzustellen, dass die in Griechenland erhobenen neuerlichen Klagen gegen die Vergleiche verstießen; darüber hinaus stellten sie „Feststellungs- und Schadensersatzanträge“.
Nach Ausschöpfung des Rechtswegs ergingen auf diese Klagen gegen Starlight und ΟΜΕ im Vereinigten Königreich am 26.09.2014 das Urteil und die Beschlüsse des High Court. Mit diesem Urteil und den Beschlüssen, die sich auf den Inhalt der Vergleiche sowie auf die dieses Gericht für zuständig erklärende Gerichtsstandsklausel stützten, wurden den Rechtsmittelführern des Ausgangsverfahrens eine Entschädigung im Zusammenhang mit dem in Griechenland eingeleiteten Verfahren sowie die Erstattung der in England angefallenen Kosten zugesprochen.
Der Einzelrichter – Kammer für Seerecht – Piräus, Griechenland gab dem Antrag von Charles Taylor und von FD vom 07.01.2015 auf Anerkennung und Teilvollstreckbarerklärung des Urteils und der Beschlüsse des High Court in Griechenland gemäß der VO (EG) Nr. 44/2001 statt.
Am 11.09.2015 legten Starlight und OME vor dem Berufungsgericht Piräus (Griechenland) einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Einzelrichters der Kammer für Seerecht – Piräus ein.
Mit Urteil vom 01.07.2019 gab dieses Gericht dem Rechtsbehelf mit der Begründung statt, dass die Entscheidungen, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt würden, Quasi-Prozessführungsverbote enthielten, die die Betroffenen daran hindern könnten, griechische Gerichte anzurufen, was gegen Art. 6. Abs. 1 EMRK sowie gegen Art. 8 Art. und Art. 20 der Syntagma (Verfassung) verstoße, wobei diese Bestimmungen zum Kernbereich des Begriffs der öffentlichen Ordnung in Griechenland gehörten.
Charles Taylor und FD haben dieses Urteil beim Kassationsgerichtshof (Griechenland), dem vorlegenden Gericht, mit einem Rechtsmittel angefochten. Sie machen geltend, das Urteil und die Beschlüsse des High Court enthielten weder einen offensichtlichen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung am Ort des Gerichtsstands noch gegen die der Europäischen Union, und sie verletzten nicht deren Grundprinzipien. Dass ihnen eine vorläufige Entschädigung in Ansehung der neuerlichen Klagen zugesprochen worden sei, die in Griechenland im Vorfeld von vor den englischen Gerichten eingereichten erhoben worden seien, hindere weder die Betroffenen daran, weiter die griechischen Gerichte anzurufen, noch diese Gerichte daran, ihnen Rechtsschutz zu gewähren. Daher seien das Urteil und die Beschlüsse des High Court zu Unrecht als „Anti-Suit Injunctions“ behandelt worden. Unter diesen Umständen hat der Kassationsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH seine Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
II. Der EuGH hat nach Anhörung des Generalanwalts Richard de la Tour wie aus dem Tenor ersichtlich entschieden.
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
Zu der Frage, ob die VO (EG) Nr. 44/2001 ungeachtet des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union ratione loci anwendbar ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 67 Abs. 2 Buchst. a des Austrittsabkommens i.V.m. dessen Art. 126 und 127 im Vereinigten Königreich sowie in den Mitgliedstaaten in Fällen, die einen Bezug zum Vereinigten Königreich aufweisen, die VO (EU) Nr. 1215/2012 auf die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen Anwendung findet, die in Verfahren ergangen sind, die vor dem Ende des Übergangszeitraums (31.12.2020) eingeleitet wurden.
Daraus folgt, dass die Bestimmungen über die Anerkennung und Vollstreckung in der VO (EG) Nr. 44/2001, die beim Abschluss des Austrittsabkommens bereits durch die VO (EU) Nr. 1215/2012 aufgehoben und ersetzt worden war, unter den gleichen Voraussetzungen ebenfalls anwendbar sind. Im vorliegenden Fall ist die VO (EG) Nr. 44/2001 ratione loci auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar, da das Urteil und die Beschlüsse des High Court am 26.09.2014 ergangen sind.
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 i.V.m. Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung versagen kann, wenn diese Entscheidung insofern die Fortsetzung eines bei einem anderen Gericht des ersten Mitgliedstaats anhängigen Verfahrens erschwert, als sie einer der Parteien eine vorläufige finanzielle Entschädigung für die Kosten zuspricht, die ihr durch das Betreiben des in Rede stehenden Verfahrens entstehen, und zwar mit der Begründung, dass zum einen der Gegenstand dieses Verfahrens von einem Vergleich erfasst werde, der ordnungsgemäß geschlossen und von demjenigen Gericht des Mitgliedstaats, das die fragliche Entscheidung erlassen habe, gebilligt worden sei, und dass zum anderen das Gericht des ersten Mitgliedstaats, bei dem das streitige Verfahren eingeleitet worden sei, in Ansehung einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei.
Abgesehen von einigen begrenzten Ausnahmen, darunter gemäß Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 der Widerspruch gegen die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, gestattet diese Verordnung daher nicht die Prüfung der Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats durch ein Gericht eines anderen.
Das von einem Gericht im Rahmen einer Anti-Suit Injunction an eine Partei unter Androhung von Sanktionen gerichtete Verbot, eine Klage bei einem ausländischen Gericht zu erheben oder ein dortiges Verfahren weiter zu betreiben, bewirkt eine Beeinträchtigung von dessen Zuständigkeit für die Entscheidung des Rechtsstreits. Denn wenn dem Kläger die Erhebung einer solchen Klage im Wege einer Anordnung untersagt wird, liegt ein Eingriff in die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts vor, der als solcher mit dieser Verordnung unvereinbar ist.
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung im Wesentlichen hervor, dass sich das Urteil und die Beschlüsse des High Court, der von den Parteien im Rahmen der Vergleiche als ausschließlich zuständig bestimmt worden war, nicht unmittelbar an die griechischen Gerichte richten und das Verfahren, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, auch nicht ausdrücklich untersagen. Dieses Urteil und diese Beschlüsse beziehen sich indessen in ihrer Begründung erstens darauf, dass Starlight und OME sowie die sie vertretenden natürlichen Personen diesen Vergleichen zuwidergehandelt hätten, zweitens auf die Sanktionen, die ihnen drohen, wenn sie diesem Urteil und diesen Beschlüssen nicht Folge leisten, und drittens auf die Zuständigkeit der griechischen Gerichte im Hinblick auf diese Vergleiche. Darüber hinaus gehen dieses Urteil und diese Beschlüsse auch darauf ein, zu welchen Zahlungen Starlight und OME sowie die sie vertretenden natürlichen Personen verurteilt werden können, und enthalten insbesondere eine Schadensersatzentscheidung über eine im Voraus zu zahlende Entschädigung, deren Höhe nicht abschließend bestimmt ist und von der Fortsetzung des Verfahrens vor diesen Gerichten abhängt.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sich das Urteil und die Beschlüsse des High Court, als „Quasi-Prozessführungsverbote“ einstufen ließen. Denn auch wenn dieses Urteil und diese Beschlüsse nicht darauf abzielen, es einer Partei zu verbieten, vor einem ausländischen Gericht eine Klage zu erheben oder ein Verfahren weiter zu betreiben, könnte davon ausgegangen werden, dass sie zumindest die Wirkung entfalten, Starlight und OME sowie ihre Vertreter davon abzuhalten, die griechischen Gerichte anzurufen oder bei ihnen eine Klage weiter zu verfolgen, deren Gegenstand mit dem der vor den Gerichten des Vereinigten Königreichs betriebenen Klagen identisch ist; dies zu prüfen, ist indessen jedenfalls Sache des vorlegenden Gerichts.
Eine Anordnung mit derartigen Wirkungen ließe sich in Anbetracht der angeführten Grundsätze nicht mit der Verordnung Nr. 44/2001 vereinbaren.
Das Gericht des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, darf die Anerkennung einer Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat allerdings nicht allein deshalb ablehnen, weil es der Ansicht ist, dass in dieser Entscheidung das nationale Recht oder das Unionsrecht falsch angewandt worden sei, da sonst die Zielsetzung der Verordnung Nr. 44/2001 in Frage gestellt würde.
Folglich ist zu prüfen, ob ein Gericht eines Mitgliedstaats im Rahmen der Prüfung eines Rechtsbehelfs, der sich gegen eine Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats richtet, diese Erklärung mit der Begründung aufheben kann, dass diese Entscheidung „quasi“ ein grundsätzlich mit der Verordnung Nr. 44/2001 unvereinbares „Prozessführungsverbot“ sei.
Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 45 Abs. 1 dieser Verordnung die Möglichkeit, eine Vollstreckbarerklärung zu versagen oder aufzuheben, auf einen der in den Art. 34 und 35 der Verordnung genannten Gründe beschränkt. Zweitens sieht Art. 34 Nr. 1 der Verordnung im Wesentlichen vor, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn ihre Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde.
Der Gerichtshof hat zum Begriff „öffentliche Ordnung“ in dieser Bestimmung entschieden, dass Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 insofern eng auszulegen ist, als diese Bestimmung ein Hindernis für die Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele dieser Verordnung bildet. Die Ordre-public-Klausel des Art. 34 Nr. 1 der Verordnung kann deshalb nur in Ausnahmefällen Anwendung finden.
Zwar können die Mitgliedstaaten aufgrund des Vorbehalts in dieser Bestimmung grundsätzlich selbst festlegen, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, jedoch gehört die Abgrenzung dieses Begriffs zur Auslegung dieser Verordnung.
Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofs ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Mitgliedstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats die Anerkennung zu versagen.
Eine Anwendung der Ordre-public-Klausel des Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung dieses Staates stünde. Damit das Verbot, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in der Sache nachzuprüfen, gewahrt bleibt, muss es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln.
Die Voraussetzungen für die Anwendung der Ordre-public-Klausel i.S.v. Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ändern sich nicht dadurch, dass der offensichtliche Fehler, den das Gericht des Ursprungsstaats begangen haben soll, eine unionsrechtliche Bestimmung betrifft. Denn das nationale Gericht hat den Schutz der durch die nationale Rechtsordnung verliehenen Rechte und der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte in gleicher Weise wirksam zu gewährleisten. Diese Klausel muss in gleicher Weise gelten, wenn der Rechtsfehler bedeuten würde, dass die Anerkennung der betreffenden Entscheidung in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, eine offensichtliche Verletzung einer in der Unionsrechtsordnung und somit in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats wesentlichen Rechtsnorm zur Folge haben würde.
Im vorliegenden Fall verstoßen das Urteil und die Beschlüsse des High Court, die sich gemäß Rn. 27 des vorliegenden Urteils insofern als „Quasi-Prozessführungsverbote“ einstufen ließen, als sie mittelbar Einfluss auf die Fortführung eines bei den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats eingeleiteten Verfahrens haben, gegen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden allgemeinen Grundsatz, wonach jedes angerufene Gericht nach den für es geltenden Vorschriften selbst bestimmt, ob es für die Entscheidung über den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit zuständig ist.
Unter diesen Umständen kann es vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht, mit der öffentlichen Ordnung des Rechts des Staates, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, unvereinbar sein, das Urteil und die Beschlüsse des High Court anzuerkennen und sie zu vollstrecken, soweit sie geeignet sind, in einem auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden europäischen Rechtsraum den fundamentalen Grundsatz zu verletzen, wonach jedes Gericht über seine eigene Zuständigkeit entscheidet.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 i.V.m. Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung versagen kann, wenn diese Entscheidung insofern die Fortsetzung eines bei einem anderen Gericht des ersten Mitgliedstaats anhängigen Verfahrens erschwert, als sie einer der Parteien eine vorläufige finanzielle Entschädigung für die Kosten zuspricht, die ihr durch das Betreiben des in Rede stehenden Verfahrens entstehen, und zwar mit der Begründung, dass zum einen der Gegenstand dieses Verfahrens von einem Vergleich erfasst werde, der ordnungsgemäß geschlossen und von demjenigen Gericht des Mitgliedstaats, das die fragliche Entscheidung erlassen habe, gebilligt worden sei, und dass zum anderen das Gericht des ersten Mitgliedstaats, bei dem das streitige Verfahren eingeleitet worden sei, in Ansehung einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei.
Zur zweiten Frage
Die zweite Frage ist für den Fall gestellt worden, dass die erste Frage verneint wird. Angesichts der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage daher nicht beantwortet zu werden.


C.
Kontext der Entscheidung
Gegenstand der Entscheidung ist die Ordre-public-Widrigkeit eines Quasi-Prozessführungsverbots nach den Art. 34 Nr. 1, 45 Abs. 1 Brüssel I-VO. Die Grundsätze dieser Entscheidung sind auch maßgeblich für die entsprechenden Regelungen der Brüssel Ia-VO (Anm. Mayrhofer, EuZW 2023, 996, 997 a.E.): Art. 45 Abs. 1 Buchst. a: der Versagungsgrund der Versagungsgrund der Ordre-public-Widrigkeit; Art. 52: Verbot der inhaltlichen Überprüfung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung.
Der EuGH ergänzt mit dieser Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zu sog. Anti-Suit Injunctions; er überträgt mit dieser Entscheidung die für Prozessführungsverbote maßgeblichen Grundsätze auf gerichtliche Entscheidungen, die eine Partei verpflichten, für den Fall, dass sie ein Verfahren bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats einleitet oder fortführt, der anderen Partei die Kosten zu ersetzen, die letzterer durch das Betreiben dieses Verfahrens entstehen (Anm. Mayrhofer, EuZW 2023, 996). Der EuGH führt aus, dass derartige Schadensersatzforderungen Quasi-Prozessführungsverbote begründen können. Der EuGH hat erstmals entschieden, dass die unionsrechtswidrige Anordnung von (Quasi-)Prozessführungsverboten auch im Stadium der Anerkennung und Vollstreckung als Ordre-public-Verstoß derartiger Entscheidungen gewürdigt und ihnen nach Art. 45 Abs. 1 Buchst. a Brüssel Ia-VO die Anerkennung versagt werden kann.
Grundlage der Auslegung der Ordre-public-Regelung des Art. 34 Nr. 1 Brüssel I-VO (Art. 45 Abs. 1 Buchst. a Brüssel Ia-VO) hinsichtlich der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage 1 (Rn. 23) ist der vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelte Grundsatz, dass die Brüssel I-VO auf dem Vertrauen beruht, das die Mitgliedstaaten gegenseitig ihren Rechtssystemen und Rechtspflegeorganen entgegenbringen (Rn. 24; EuGH, Urt. v. 09.12.2003 - C-116/02 - EuZW 2004, 188 Rn. 72 „Gasser“ m. Anm. Mankowski, EWiR 2004, 439). Abgesehen von einigen begrenzten Ausnahmen, darunter gemäß Art. 34 Nr. 1 Brüssel I-VO (Art. 45 Abs. 1 Buchst. a Brüssel Ia-VO) der Widerspruch gegen die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, gestattet diese Verordnung daher nicht die Prüfung der Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats (Rn. 24; EuGH, Urt. v. 27.04.2004 - C-159/02 - EuZW 2004, 334 Rn. 26 „Turner“, zum EuGVÜ, m. Anm. Mankowski, EWiR 2004, 755; EuGH, Urt. v. 10.02.2009 - C-185/07 - EuZW 2009, 215 Rn. 29 „Allianz und Generali Assicurazioni Generali“; Stadler/Krüger in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 45 EuGVVO (Brüssel Ia-VO) Rn. 2 m.w.N.; E. Peiffer/M. Peiffer in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Werkstand: 66. Erg.-Lfg. Januar 2023, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 18; Ulrici in: BeckOK ZPO, 51. Ed. Stand: 01.12.2023, Art. 52 Brüssel Ia-VO vor Rn. 1 m.w.N.).
Der EuGH bestätigt seine bisherige Rechtsprechung zu den Grundsätzen unionsrechtswidriger Prozessführungsverbote, mit denen einer Partei von einem Gericht eines Mitgliedstaats untersagt wird, ein Verfahren bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats einzuleiten oder fortzuführen (EuGH, Urt. v. 27.04.2004 - C-159/02 - EuZW 2004, 468 Rn. 26 ff. „Turner“, zum EuGVÜ; EuGH, Urt. v. 10.02.2009 - C-185/07 - EuZW 2009, 215 Rn. 28 ff. „Allianz und Generali Assicurazioni Generali“; EuGH, Urt. v. 13.05.2015 - C-536/13 - EuZW 2015, 509 Rn. 32 ff. „Gazprom“, zu Schiedsgerichten).
Er überträgt mit seiner Entscheidung diese Grundsätze auf gerichtliche Entscheidungen, die die eine Partei verpflichten, im Fall der Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats, der anderen Partei die Kosten, die letzterer durch das Betreiben dieses Verfahrens entstehen, zu ersetzen. Er führt aus, dass es sich bei derartigen Schadensersatzentscheidungen um Quasi-Prozessführungsverbote handeln könne. Die Beurteilung, ob die Schadensersatzpflicht im konkreten Fall die genannten Wirkungen entfaltet, überlässt der EuGH dem nationalen Gericht (Rn. 27).
Relevante Verstöße gegen den ordre public können auch Verstöße gegen ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen oder gegen Vergleiche sein, mit denen ein Streit abschließend beigelegt und die Anrufung eines weiteren Gerichts verhindert werden soll (Rn. 23).
Der EuGH hat erstmals entschieden, dass ein derartiger Eingriff auch einen Ordre-public-Verstoß i.S.d. Art. 34 Nr. 1 Brüssel I-VO (= Art. 45 Abs. 1 Buchst. a Brüssel Ia-VO) begründen kann (Rn. 36). Der EuGH betont, dass ein Ordre-public-Verstoß voraussetzt, dass der Rechtsfehler bedeuten würde, dass die Anerkennung der betreffenden Entscheidung in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, eine offensichtliche Verletzung einer in der Unionsrechtsordnung und somit in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats wesentlichen Rechtsnorm zur Folge haben würde (Rn. 36). Derartige (Quasi-)Prozessführungsverbote sind geeignet, „in einem auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden europäischen Rechtsraum den fundamentalen Grundsatz zu verletzen, wonach jedes Gericht über seine eigene Zuständigkeit entscheidet“ (Rn. 39).
Das grundsätzliche Verbot, die Zuständigkeit des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats zu überprüfen, von den Ausnahmen in Absatz 1 Buchstabe e abgesehen, ist in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 Brüssel I-VO (= Art. 45 Abs. 3 Satz 1 Brüssel Ia-VO) geregelt. Eine Korrektur der Zuständigkeitsentscheidung eines Gerichts im Entscheidungsstaat im Anerkennungsstaat ist selbst bei krassen Verstößen nicht möglich; Art. 45 Abs. 3 Satz 2 Brüssel Ia-VO bestimmt, dass die Vorschriften über die Zuständigkeit nicht zum ordre public i.S.v. Art. 45 Abs. 1 Buchst. a Brüssel Ia-VO gehören (vgl. i.E. E. Peiffer/M. Peiffer in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 140; Leible in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 5. Aufl. 2021, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 74; Stadler/Krüger in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 45 EuGVVO (Brüssel Ia-VO Rn. 4).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Einleitung eines Gerichtsverfahrens innerhalb der EU ist beiden Parteien zu raten, die internationale Entscheidungszuständigkeit des Gerichts zu prüfen und sie ggf. zu beanstanden. Der Entscheidung eines unzuständigen Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats kann die Anerkennung im Anerkennungsstaat nur in den geregelten Ausnahmefällen versagt werden. Die Parteien können nicht darauf vertrauen, dass im Fall, dass das abredewidrig angerufene Gericht seine Entscheidungsbefugnis zu Unrecht bejaht, jedenfalls Schadensersatzansprüche durchgesetzt werden können (Pfeiffer/Weiler, RIW 2020, 321, 330; Mayrhofer, EuZW 2023, 996).
Die Grundsätze der Entscheidung des EuGH sind zur Brüssel I-VO ergangen; sie sind auf die Regelungen der Brüssel Ia-VO anwendbar. Folglich können die unzulässigen Quasi-Prozessführungsverbote unter der Geltung der Brüssel Ia-VO einen Ordre-public-Verstoß begründen (vgl. Schlosser/Hess/Hess, EuGVVO, Art. 45 Rn. 11; Pfeiffer/Weiler, RIW 2020, 321, 331; Mayrhofer, EuZW 2023, 996).
Der BGH hat in einer neueren Entscheidung seine Rechtsprechung bestätigt, dass der in Art. 45 Abs. 1 Buchst. a Brüssel Ia-VO vorgesehene Anerkennungsversagungsgrund, der als Grund für eine Anerkennungsversagung einen Verstoßes gegen ordre public vorsieht, nur in Betracht kommt, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstößt und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates steht, zu der neben dem jeweiligen nationalen Recht auch das Unionsrecht gehört (BGH, Beschl. v. 12.10.2023 - IX ZB 60/21 - MDR 2024, 63 Rn. 39, 40). Hauptgegenstand dieser Entscheidung war die Frage, welche Rechtsbehelfe dem Schuldner eines in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Arrestbefehls eröffnet sind, wenn der Schuldner die Vollziehungsfrist gemäß § 929 Abs. 2 ZPO versäumt hat (LS Rn. 29, 33-37).



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