juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BSG, Urteil vom 30.08.2023 - B 3 A 1/23 R
Autor:Dr. Matthias Schömann, RA
Erscheinungsdatum:26.03.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 37 SGB 11, § 39 SGB 11, § 45b SGB 11, § 62 SGB 5, § 88 SGB 10, § 89 SGB 10, § 94 SGB 10, § 69 SGB 10, § 197b SGB 5
Fundstelle:jurisPR-MedizinR 3/2024 Anm. 1
Herausgeber:Möller und Partner - Kanzlei für Medizinrecht
Zitiervorschlag:Schömann, jurisPR-MedizinR 3/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine Anwendung des § 197b SGB V auf die Aufgaben der Pflegekasse



Orientierungssatz zur Anmerkung

Das Tatbestandsmerkmal „wesentlich“ in § 197b SGB V beurteilt sich nicht nach dem Schwierigkeitsgrad der Erledigung einer Aufgabe, sondern nach deren Bedeutung für die Versicherten.



A.
Problemstellung
Gegenstand des Verfahrens ist ein aufsichtsrechtlicher Bescheid des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS), in welchem dieses der klagenden Pflegekasse aufgab, einen Rahmenvertrag mit einem externen privaten Dienstleister zu kündigen, da dieser Rahmenvertrag gegen geltendes Recht verstoße.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die klagende Krankenkasse schloss mit einem privaten Dienstleister einen Rahmenvertrag zur Übertragung von verschiedenen Aufgaben der bei ihr errichteten Pflegekasse sowie auch eigener Aufgaben nach dem SGB V. Zu den übertragenen Aufgaben nach dem SGB XI gehörte u.a.:
Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Leistungsgewährung und Rechnungsprüfung zu Beratungseinsätzen nach § 37 Abs. 3 SGB XI, zur Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI, zum Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI sowie zur Kurzzeitpflege und deren Auswirkungen auf das Pflegegeld.
Zu den Aufgaben nach dem SGB V, die in der Vereinbarung ausdrücklich als Unterstützungsarbeiten bezeichnet wurden, gehörte:
der Regelprozess zur Prüfung der Voraussetzungen für die teilweise Zuzahlungsbefreiung nach § 62 SGB V,
der Regelprozess zur Antragsprüfung für Rechnungen von Arzneimitteln und Impfungen, die als Satzungsleistungen gewährt wurden.
Nach aufsichtsrechtlicher Beratung durch das BAS verpflichtete dieses die Klägerin den Rahmenvertrag unverzüglich außerordentlich zu kündigen. Die auf Aufhebung des Verpflichtungsbescheids gerichtete Klage wurde vom erstinstanzlich zuständigen LSG Berlin-Potsdam mit Urteil vom 21.10.2022 (L 4 KR 28/21 KL) abgewiesen.
Die zugelassene Revision hatte keinen Erfolg.
Der 3. Senat des BSG führt aus, dass es – abgesehen von untergeordneten Hilfstätigkeiten – für die Übertragung der den Sozialversicherungsträgern zugewiesenen Aufgaben an private Dritte einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Daran fehle es jedenfalls für die Aufgaben der Pflegekasse. Die Pflegekassen können sich hierzu auch nicht auf die vom Recht zur Selbstverwaltung umfasste Organisationshoheit berufen. Diese gewährleiste nur, dass der jeweilige Träger der Selbstverwaltung eigenverantwortlich über die innere Verwaltungsorganisation einschließlich der zur Aufgabenwahrnehmung notwendigen Abläufe und Zuständigkeiten entscheiden könne. Die Befugnis, selbst über die Beteiligung privater Dritter am Vollzug sozialrechtlicher Vorschriften zu befinden, sei von der Organisationshoheit nicht umfasst. Es obliege vielmehr der Entscheidung des Bundesgesetzgebers im Rahmen seiner Kompetenz zur Regelung der Organisation der Selbstverwaltung, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Aufgabenübertragung an private Dritte möglich sein soll.
Für den Bereich der Pflegeversicherung fehle eine solche Regelung. Die §§ 88 und 89 SGB X beziehen sich schon nach dem Wortlaut ausschließlich auf die Wahrnehmung von Aufgaben eines Leistungsträgers durch einen anderen Leistungsträger oder seinen Verband. Auf private Dritte sei diese Vorschrift nicht anwendbar. Auch § 197b SGB V könne nicht (analog) als Rechtsgrundlage herangezogen werden. Eine unmittelbare Anwendung verbiete sich schon aufgrund des Wortlauts der Norm, der sich auf die Aufgaben der Krankenkassen beziehe. Aufgaben der sozialen Pflegeversicherung obliegen den Krankenkassen aber nicht. Für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf die Pflegekassen fehle es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Angesichts der eingehenden Ausformulierung von Abläufen und Zuständigkeiten im SGB XI bestehe kein Anlass für die Annahme einer solchen Lücke. Weiterhin finde das mit der Einführung von § 197b SGB V verfolgte Ziel der Erlangung einer wettbewerbsfähigen Verhandlungsposition von Krankenkassen keine Entsprechung in der sozialen Pflegeversicherung mit ihren vollständig anders (nicht wettbewerblich) ausgestalteten Vergütungsbeziehungen zu den Erbringern von Pflegeleistungen.
Weiterhin sei die Beauftragung von Dritten mit wesentlichen Aufgaben vom Gesetz ausgenommen (§ 197b Satz 2 SGB V). Nach Rechtsprechung des 1. Senats (BSG, Urt. v. 08.10.2019 - B 1 A 3/19 R Rn. 28 m.w.N. - BSGE 129, 156 = SozR 4-2500 § 11 Nr 6), der sich der 3. Senat anschließt, sind danach alle Aufgaben von der Übertragung auf private Dritte aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen, die ihrer Art nach die Leistungsgewährung an Versicherte und damit eine Kernaufgabe der Krankenkasse und der gesetzlichen Krankenversicherung betreffen.
Auch eine „nichtwesentliche“ Versorgung sei eine wesentliche Aufgabe der Krankenkasse. Eine Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Aufgaben müsste vom Gesetzgeber intendiert sein. Daran fehle es hier. Es müsse für den Normadressaten hinreichend deutlich werden, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen abweichend vom Normalfall der Aufgabenerledigung durch eigene Verwaltungseinrichtungen Dritte mit einer solchen beauftragt werden können. Ob eine Aufgabe wesentlich zur Versorgung der Versicherten in diesem Sinne sei, könne nicht nach dem Schwierigkeitsgrad ihrer Erledigung, sondern nur nach der Bedeutung für die Versicherten beurteilt werden. Das BSG könne nicht erkennen, dass es schlechthin für jeden Versicherten nicht wesentliche Versorgungsaufgaben gebe.
Bei den streitgegenständlichen Aufgaben, die die Pflegekasse an den privaten Dritten übertrug, handle es sich nicht um bloße Hilfstätigkeiten, sondern um die Versicherten unmittelbar berührende qualifizierte Sachbearbeitung mit inhaltlicher Prüfung der versicherungs- und leistungsrechtlichen Voraussetzungen. Bei den dem privaten Dienstleister übertragenen Prüfschritten handle es sich von der Prüfdichte her nicht nur um eine oberflächliche Auseinandersetzung mit den das Leistungsverhältnis der Klägerin zu ihren Versicherten unmittelbar berührenden Leistungsvoraussetzungen und Tatbestandsmerkmalen.
Auch bei den SGB V-Aufgaben, welche die Klägerin an den privaten Dienstleister übertragen hatte, handle es sich um wesentliche Aufgaben. Auch sie betreffen die Prüfung von Leistungsvoraussetzungen für Ansprüche Versicherter.


C.
Kontext der Entscheidung
Das Outsourcing von Leistungen ist für viele Sozialversicherungsträger selbstverständlich geworden und ist durch § 197b SGB V zumindest für den Bereich der GKV gesetzlich legitimiert. Nach dieser Vorschrift können die Krankenkassen Aufgaben durch Arbeitsgemeinschaften oder durch Dritte wahrnehmen lassen, wenn die Aufgabenwahrnehmung durch diese wirtschaftlicher ist, es im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen liegt und Rechte der Versicherten nicht beeinträchtigt sind. Wesentliche Aufgaben zur Versorgung der Versicherten dürfen nicht in Auftrag gegeben werden. Der Begriff der Wesentlichkeit einer Aufgabe für die Versorgung der Versicherten war bisher aber noch nicht eindeutig festgelegt, so dass die Krankenkassen hier durchaus einen Spielraum hatten. Konsens bestand aber darin, dass Kernaufgaben der Krankenkassen nicht übertragen werden konnten (Baier in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 120. EL November 2023, § 197b SGB V Rn. 12).
Die vorliegende Entscheidung bezieht sich auf einen Fall der Aufgabenübertragung an einen (privaten) Dritten. Da sich die Urteilsbegründung auch in seinen allgemeinen Ausführungen immer nur auf die Übertragung von Aufgaben an Dritte bezieht, ist eine Übertragung dieser Ausführungen auf eine Aufgabenübertragung an Arbeitsgemeinschaften jedenfalls nicht zwingend. Es sprechen auch rechtliche Gründe dafür, bei einer Übertragung an Arbeitsgemeinschaften andere Maßstäbe anzusetzen. Arbeitsgemeinschaften von Krankenkassen bzw. Sozialversicherungsträgern i.S.d. § 94 Abs. 1a SGB X sind gegenüber privaten Dienstleistern zu privilegieren. Das ergibt sich aus dem SGB selbst, wonach die Arbeitsgemeinschaften im Rahmen des Sozialdatenschutzes gegenüber privaten Dritten privilegiert sind (vgl. etwa für die Übermittlung von Sozialdaten: § 69 SGB X).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Vorgaben des 3. Senats des BSG werden nun dazu führen, dass bestehende Verträge mit privaten Dritten an den nun vorgegebenen Maßstäben zu messen sind. Insbesondere Aufgaben nach dem SGB XI dürften nach den Ausführungen des 3. Senats kaum noch rechtssicher an private Dritte übertragen werden, da es eben an einer mit § 197b SGB V vergleichbaren Regelung im SGB XI fehlt und eine analoge Anwendung nach Ansicht des Senats nicht in Betracht kommt.
Da das BSG mehrfach betont hat, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, klare Regelungen für das Outsourcing zu schaffen, liegt es nun also in den Händen der Politik hier tätig zu werden und Regelungen zu schaffen, die eine rechtssichere Aufgabenübertragung ermöglichen.
Um auch den Pflegekassen ein wirtschaftlich sinnvolles Outsourcing zu ermöglichen, wäre eine dem § 197b SGB V vergleichbare Regelung im SGB XI sinnvoll. Aber auch § 197b SGB V selbst könnte mit Blick auf die bereits angesprochene besondere Rolle der Arbeitsgemeinschaften im SGB noch überarbeitet werden. So wäre eine weiter gehende Übertragung von Aufgaben an Arbeitsgemeinschaften wirtschaftlich sinnvoll.



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