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Anmerkung zu:LSG Essen 9. Senat, Urteil vom 19.10.2023 - L 9 AL 43/22
Autor:Prof. Dr. Karl-Jürgen Bieback
Erscheinungsdatum:16.05.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 97 SGB 3, § 160 SGG, § 96 SGB 3, § 28f SGB 4, § 99 SGB 3, § 16 SGB 1, Art 3 GG, EGV 859/2008, EGV 883/2004, 12016E045, 12016E049
Fundstelle:jurisPR-SozR 10/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Bieback, jurisPR-SozR 10/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Kurzarbeitergeld an in Deutschland versicherte Beschäftigte in mehrstufigen Betrieben des EU-Auslands



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Für die Leistung von Kurzarbeitergeld (Kug) an Beschäftigte deutscher Niederlassungen von Betrieben/Unternehmen des EU-Auslands sind die Anforderungen an das Vorliegen eines Betriebes/einer Betriebsabteilung in Deutschland an die besondere Situation von transnationalen Dienstleistungen und Betrieben anzupassen.
2. Maßgeblich ist dafür eine funktionale Interpretation der Voraussetzungen, um den Zweck des Kurzarbeitergeldes zu sichern, Beschäftigung in Deutschland zu stabilisieren.



A.
Problemstellung
Welche Anforderungen sind bei der Gewährung von Kurzarbeitergeld (Kug) zur Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen zu stellen, wenn die Beschäftigten in Deutschland sozialversichert, aber bei ihren Dienstleistungen nur wenige Arbeitsmittel in Deutschland notwendig sind und das (Mutter-)Unternehmen von einem EU-Staat aus die wesentlichen Entscheidungen im Personalwesen trifft.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin ist ein ausländisches Unternehmen mit Sitz in der EU, das u.a. von Deutschland aus für ein anderes Unternehmen Piloten und Kabinenpersonal bereitstellt, die von mehreren „Heimatbasen“ an deutschen Flughäfen aus eingesetzt werden, in Deutschland sozialversichert sind und deren Lohnabrechnungen ein externer Dienstleister in Deutschland besorgt. In den Räumlichkeiten der Heimatbasen, die nach EU-Recht erforderlich sind (Anhang III zur Verordnung (EG) Nr. 859/2008), erledigen der „Base Captain“ und der „Base Supervisor“ ihre administrativen Tätigkeiten, können sich die Mitarbeiter aufhalten, werden Computerarbeitsplätze zur Verfügung gestellt und finden Schulungen statt. Entscheidungen im Flugbetrieb und im Personalbereich werden von der Flugzentrale des (Mutter-)Unternehmens und der Personalleitung der Klägerin von außerhalb Deutschlands getroffen.
Während der erheblichen Flugausfälle in Deutschland und Europa im ersten Jahr der Corona-Pandemie (2020) stellte die Klägerin ihren Betrieb ein und beantragte für mehrere Monate Kurzarbeitergeld und Sozialversicherungsbeiträge für die in Deutschland basierten und versicherten Mitarbeiter. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) lehnte dies ab, weil es keinen „Betrieb“ bzw. eine Betriebsabteilung i.S.d. § 97 SGB III in Deutschland gebe. Es fehle an einem Mindestmaß an eigener institutioneller und personeller Leitung im Inland. Der „Base Captain“ setze in Deutschland lediglich die im Ausland getroffenen Entscheidungen um.
Nach erfolglosem Widerspruch wurde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Landessozialgericht ein Anerkennungsbescheid über die Voraussetzungen des Kurzarbeitergeldes zugesprochen. In der Berufung des Hauptverfahrens hat die Klägerin ihren Klagantrag auf Zahlung von Kurzarbeitergeld und Beiträge zur Sozialversicherung für den streitigen Zeitraum Juni 2020 bis Februar 2021 erweitert.
Das LSG Essen hat dem Antrag der Klägerin stattgegeben und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.
Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kurzarbeitergeld seien erfüllt. Unproblematisch sei, dass der erhebliche Arbeitsausfall mit Entgeltausfall auf einem unabwendbaren Ereignis beruht, vorübergehend und unvermeidbar war (§ 96 Abs. 1 SGB III). Die Arbeitsausfälle seien – zumindest mittelbar – Folge zahlreicher behördlicher Maßnahmen, die zusammen für den Arbeitgeber ein unabwendbares Ereignis gewesen seien. Der gesamte Flugverkehr sei im strittigen Zeitraum an den deutschen Flughäfen um drei Viertel zurückgegangen.
Kurzarbeitergeld werde allerdings nur für Arbeitsausfälle im Inland bezahlt (Verweis auf BSG, Urt. v. 07.05.2019 - B 11 AL 11/18 R; LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 167/21). Dies sei der Fall, da der Arbeits- und Lohnausfall in Deutschland sozialversicherte Beschäftigte betroffen habe und auch die betrieblichen Voraussetzungen in Deutschland erfüllt seien (Rn. 56-65). Dass nicht nur die Arbeitsleistung, sondern auch der Betriebssitz im Inland zu verorten sei, habe das BSG 2019 nicht entschieden, da dort der Betrieb in Deutschland gelegen habe.
Die Voraussetzung eines „inländischen“ Betriebssitzes definiert das LSG Essen allein nach dem Zweck des Kurzarbeitergeldes, Arbeitsplätze in Deutschland zu stabilisieren. Mindestvoraussetzung dafür sei, dass die Betriebstätigkeit auf Dauer der Produktion von Waren oder Dienstleistungen in Deutschland diene und den Arbeitsmarktrisiken in Deutschland ausgesetzt sei. Weiter gehend sei nicht zu fordern, dass auch eigene Betriebsmittel vorhanden seien, da auch betriebsmittelarme Dienstleistungen Gegenstand eines Betriebes sein könnten. Der Sitz der Leitung und wesentliche technische Einrichtungen könnten sich im Ausland befinden. Die Heimatbasen der Klägerin in Deutschland seien dauerhafte Einrichtungen, deren Bildung sogar das EU-Recht vorschreibe und nach ihnen bestimme sich auch das nach dem europäischen koordinierenden Sozialrecht zuständige Sozialrechtsregime (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 5 VO (EG) 883/2004). Deshalb erfüllten sie auch die Anforderung eines deutschen Sitzes des Betriebs/der Betriebsabteilung.
Entgegen der Ansicht der beklagten BA sei nicht notwendig, dass es auch Strukturen für die personelle Leitung im Inland gebe. Einmal widerspreche es dem Zweck des Kurzarbeitergeldes und sei verfassungsrechtlich bedenklich, wenn es sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland gäbe, die auch den hiesigen Beschäftigungsrisiken unterlägen, ihnen aber eine Versicherungsleistung zur Absicherung dieser Risiken versagt werden würde. Zum anderen könnten die Prüfungen der Voraussetzungen für den Arbeitsausfall (§ 96 SGB III) an den Heimatbasen vorgenommen und die Richtigkeit der persönlichen Voraussetzungen wie der Berechnung des Kurzarbeitergeldes selbst bei dem gesetzlich vorgeschriebenen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland nachgeprüft werden (§ 28f Abs. 1b SGB IV).
Das Kurzarbeitergeld unterfalle als Leistung bei Arbeitslosigkeit i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Buchst. h VO (EG) 883/2004 dem koordinierenden Sozialrecht der EU (Verweis auf BSG, Urt. v. 07.05.2019 - B 11 AL 11/18 R). Damit sei auch die Sachverhaltsgleichstellung anwendbar, d.h. bei der Frage, ob ein Betrieb seinen Sitz im Inland habe, sei ein Sitz im Ausland dem im Inland gleichzustellen.
Die Vorschrift, dass der Arbeitsausfall gemäß § 99 Abs. 1 SGB III bei der Agentur für Arbeit, in deren Bezirk der Betrieb seinen Sitz hat, schriftlich oder elektronisch anzuzeigen sei, habe die Klägerin unstreitig erfüllt, da sie an den möglichen Orten, dem Sitz des externen Dienstleisters zur Abwicklung der Lohnzahlungen wie den Sitzen aller Heimatbasen Anzeigen gestellt habe.


C.
Kontext der Entscheidung
Mit dem umfassenden Einsatz des Kurzarbeitergeldes zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie sind vor allem Probleme bei der Kurzarbeit von Beschäftigten ausländischer Firmen in Deutschland aufgetreten, bei denen die BA verneinte, dass es einen „Betriebssitz“ oder zumindest eine „Betriebsabteilung“ in Deutschland i.S.v. § 96 Abs. 4 SGB III und § 97 SGB III („Der Arbeitsausfall ist bei der Agentur für Arbeit, in deren Bezirk der Betrieb seinen Sitz hat, … anzuzeigen“) gibt. Im Gegensatz zum LSG Essen versagten das LSG München in drei Urteilen vom 09.08.2023 (L 10 AL 130/21, L 10 AL 167/21 und L 10 AL 56/21) und das LSG Berlin-Brandenburg im Urteil vom 15.02.2023 (L 18 AL 46/22) den Betriebssitz und ordnungsgemäße Anträge und damit Leistungen. Nur das LSG Essen hat die Revision zugelassen. Es ist in keinem Verfahren Revision beim BSG anhängig. Erstaunlich ist, dass außer dem LSG Essen keines der Landessozialgerichte die ausführliche Literatur zu diesem Problem zitiert und verarbeitet (Weiss-Bölz, DStR 2021, 736; Bieback, DB 2021, 732; Greiser/Kador, ZESAR 2021, 383).
1. Die Voraussetzungen gemäß § 96 Abs. 1 SGB III, dass der Arbeitsausfall auf wirtschaftlichen Gründen oder einem unabwendbaren Ereignis beruht, vorübergehend und unvermeidbar war, wird in allen Urteilen bejaht. Dafür waren die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu allgemein und evident.
2. In den Urteilen des LSG Essen und der anderen beiden Landessozialgerichte war zentral, ob und wie der Arbeitsausfall in einem Betrieb/einer Betriebsabteilung in Deutschland stattfand. Das hat in ganz unterschiedlichen Kontexten eine Bedeutung. Die Begriffe „Betrieb“/„Betriebsabteilung“ dienen innerhalb eines Unternehmens mit mehreren Produktionen/Sparten und mehreren Niederlassung dazu, das jeweilige Risiko und seine Größe, d.h. die Schwelle zu bestimmen, ab der ein konkreter Arbeitsausfall nicht mehr allein vom Arbeitgeber, sondern auch von der Arbeitslosenversicherung getragen wird (§ 96 Abs. 1 Nr. 4 SGB III: bei ½ (in der Pandemie nur 10%) der Beschäftigten des Betriebs/der Betriebsabteilung 10% Verlust des Bruttoentgelts). Zwar unterschied das LSG Essen nicht zwischen Betrieb und Betriebsabteilung (Rn. 53), weil in der Pandemiezeit die gesetzliche Mindestquote sehr niedrig war und die gesamten Flugtransportleistungen überwiegend ausfielen. Aber es musste geklärt werden, ob die Niederlassungen der Klägerin, die Heimatbasen, (1) überhaupt ein „Betrieb“ oder zumindest eine „Betriebsabteilung“ (2) hinreichend im deutschen Arbeitsmarkt verankert waren.
a) Die gängige Definition des „Betriebs“ wird stark von vorgegebenen Begrifflichkeiten etwa des Arbeitsrechts bestimmt (prototypisch Petzold in: Hauck/Noftz, SGB III, § 97 Rn. 4 m.w.N., krit. Bieback, DB 2021, 732/3). Aber wenn schon nicht für den Begriff „Betrieb“ dominieren zumindest für den der „Betriebsabteilung“ funktionale, risikobezogene Elemente (BSG, Urt. v. 17.03.1972 - 7 RAr 50/69 Rn. 20; BSG, Urt. v. 20.01.1982 - 10/8b RAr 9/80 Rn. 31; Bieback, DB 2021, 732 Fn. 3-7 m.w.N.). Als erstes Gericht und im Gegensatz zum LSG München und LSG Berlin-Brandenburg entwickelt das LSG Essen eine rein funktionale, risikobezogene Definition: Es geht um den Bestand deutscher, in Deutschland versicherter und den Risiken des deutschen Arbeitsmarktes ausgesetzten Arbeitsverhältnisse, die durch Kurzarbeitergeld vor Arbeitslosigkeit bewahrt, die Arbeitseinkommen und die Arbeitskräfte dem Betrieb/der Niederlassung gesichert und die Stabilität des deutschen Arbeitsmarkts und der Wirtschaftsleistung gefördert werden sollen (BT-Drs. 13/4941, S. 184/4). Deshalb können für die Bestimmung von „Betrieb“/„Betriebsabteilung“ materielle, spezifische Betriebsmittel nicht verlangt werden, sonst schließt man einen erheblichen Teil der auf dem deutschen Arbeitsmarkt erbrachten Dienstleistungen aus, für die oft nur noch ein PC/Laptop ausreicht.
Gut vertretbar ist es auch, wie das LSG Essen zu verlangen, dass die Zugehörigkeit zum deutschen Arbeitsmarkt eine örtliche Gebundenheit der Arbeitseinsatzes in Deutschland verlangt. Allerdings musste das Landessozialgericht sie nicht weiter erörtern. Denn die nach EU-Recht erforderlichen „Heimatbasen“ bestehen schon über ein Jahrzehnt und sind mit einer gewissen räumlichen und materiellen Ausstattung versehen (ausführlich zur VO EU 965/2012 LSG Essen, Beschl. v. 08.03.2021 - L 9 AL 198/20 B ER Rn. 73 f.). Deshalb brauchte das LSG Essen auch nicht auf drei der vier Urteile der anderen Landessozialgerichte einzugehen, bei denen es um Dienstleistungen im Homeoffice ging, die zumindest theoretisch von überall ausgeübt werden können (LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 167/21; LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 56/21 und LSG Berlin-Brandenburg. Urt. v. 15.02.2023 - L 18 AL 46/22). Ob dieses Kriterium der Ortsgebundenheit allen Spielarten von digital abgewickelten Dienstleistungen gerecht wird und sie von einer der wichtigsten Versicherungsleistung des SGB III ausschließen kann, bräuchte mehr Argumente und Sorgfalt und auch eine Abkehr von den durch klassische Industrie und Dienstleistungen geprägten Sichtweisen und Interpretationen.
Dass das LSG Essen auch auf eine umfassende personelle Leitungsstruktur vor Ort verzichtet, kann ebenfalls überzeugen. Auch dies ist angesichts der sehr unterschiedlichen, mehrstufigen Struktur von internationalen Betrieben und Konzernen und der Möglichkeit der Verwaltung über das Internet angemessen. Dass die Personalführung vor Ort sehr gering, oft auf Teile der Arbeitsplanung reduziert sein kann, ist bei „Betriebsabteilungen“ nicht ungewöhnlich. Wichtiger ist der eigene, spezifische Betriebs-/Abteilungszweck mit eigenen Arbeitsmarktrisiken auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Er wird durch die Sozialversicherungspflicht, den Einsatzort und Arbeitsbereich geschaffen. Das war bei allen Urteilen der drei Landessozialgerichte der Fall.
b) Bei einer Betriebsabteilung muss nach der Entscheidung des BSG aus 2020 eine für Außenstehende erkennbare organisatorische Trennung vom (Gesamt-)Betrieb bestehen; allein eine betriebsinterne Spezialisierung in Arbeitsgruppen etc. reicht nicht aus (BSG, Urt. v. 14.10.2020 - B 11 AL 6/19 R Rn. 24 „Bauabteilung eines Betriebs“). Das gilt vor allem, wenn die Betriebsabteilung räumlich-funktional Teil eines größeren Betriebs ist. Bei den Heimatbasen ist die Eigenständigkeit schon nach EU-Recht erforderlich. Weshalb es aber in den Fällen des LSG München und LSG Berlin-Brandenburg nicht ausreicht, dass der Funktionsbereich eindeutig räumlich (deutscher Markt) und sachlich (gesamte Vertrieb) vom Hauptbetrieb getrennt ist und die Beschäftigten einem ganz anderen Arbeits- und Sozialrecht unterliegen als der (Haupt-)Betrieb, wird dort nicht diskutiert.
c) Dass ein Betrieb/eine Betriebsabteilung im umfassenden Sinne in Deutschland liegen müsse, rechtfertigt das LSG München damit, die BA müsse und könne die Voraussetzungen des Kurzarbeitergeldes nur in Deutschland kontrollieren, da dies eine territorial beschränkte hoheitliche Tätigkeit sei (LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 130/21 Rn. 24, 35; LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 167/21 Rn. 28 und LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 56/21 Rn. 24).
Anders als das LSG München erörtert das LSG Essen das Problem der Kontrolle nicht abstrakt, sondern konkret. Zusätzlich zur erforderlichen inländische Lohnabrechnungsstelle (§ 28f Abs. 1 SGB IV) verwies es auf die von der Klägerin für Auskünfte benannten Ansprechpartner jeder Heimatbasis. Das lässt sich noch verallgemeinern: Die BA kann in ihren Antragsformularen ein ausländisches Unternehmen/einen ausländischen Betrieb verpflichten, einen Ansprechpartner zu benennen, der über alle personellen Fragen weitere Auskunft geben kann und auch die Befugnis hat, entsprechende Urkunden vorzulegen. Zum Erlass des Anerkennungsbescheid kann die BA alle notwendigen Angaben verlangen, eine Amtsermittlungstätigkeit bedarf es nicht. Erweist sich eine nachgehende Prüfung als erforderlich, kann bei Nichterfüllung der Informationsauflage die Leistung aufgehoben werden. Bei Dienstleistungen werden Augenscheinnahmen vor Ort in der Regel nichts bringen. Auch die internen Regeln der BA verlangen für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zahlung von Kurzarbeitergeld nur die Vorlage von Papieren und Formularen (www.arbeitsagentur.de/unternehmen/finanziell/kurzarbeitergeldformen/kurzarbeitergeld-anzeige-antrag-berechnung/abschlusspruefung-kurzarbeit, zuletzt abgerufen am 22.04.2024). Schon sehr früh hat das BVerfG entschieden, dass Maßnahmen der Sozialrechtsträger gegenüber Ausländern im Ausland nicht gegen das Territorialprinzip verstoßen bzw. vor ihm gerechtfertigt werden können (insbesondere BVerfG, Beschl. v. 26.06.1979 - 1 BvL 10/78 - BVerfGE 51, 356, freiwillige Versicherung von Ausländern im Ausland).
3. Kein Problem machte es, dass gemäß § 99 SGB III der Arbeitgeber den Arbeitsausfall mit den Angaben zu allen wichtigen Anspruchsvoraussetzungen in Deutschland „bei der Agentur für Arbeit, in deren Bezirk der Betrieb seinen Sitz hat“, anzeigen muss. Das BSG hat im Urteil vom 21.01.1987 (7 RAr 76/85 Rn. 17-21) betont, dass die wichtige Anspruchsvoraussetzung, die Mindestquote und weitere betriebliche und persönliche Voraussetzungen entscheidend auf den Bezugspunkt Betrieb oder Betriebsabteilung abstellten. Das ist unzweifelhaft. Aber wenn das Risiko flächendeckend die ganze Branche (LSG Essen) oder alle Beschäftigten in Deutschland traf (LSG München und LSG Berlin-Brandenburg), dann reicht es doch, wenn das LSG Essen zu Recht feststellt, in diesem Punkt sei die Unterscheidung zwischen Betrieb und Betriebsabteilung unerheblich, wenn für alle Standorte zusammen und für jeden einzeln Anzeigen gestellt werden und Arbeitsbedingungen und Arbeitsausfälle überall gleich sind. Auch in den Fällen des LSG München und des LSG Berlin-Brandenburg waren alle Beschäftigte in Deutschland von Kurzarbeit betroffen. Dann sollte es unter Verweis auf § 16 SGB I Aufgabe der BA sein, intern die richtige Arbeitsagentur zu bestimmen.
4. Das LSG Essen sichert sein Ergebnis noch im Verhältnis zum Verfassungsrecht und europäischen Sozialrecht ab. Sowohl die Ungleichbehandlung nach Art. 3 GG wie nach den Grundfreiheiten der Beschäftigten (Art. 45 AEUV) wie der Arbeitgeber (Art. 49 AEUV) sind hier einschlägig (ausführlich Weiss-Bölz, DStR 2021, 736; Bieback, DB 2021, 732; Greiser/Kador, ZESAR 2021, 383). Nach Ansicht des LSG München und des LSG Berlin ist die Beschränkung auf Beschäftigte in deutschen Betrieben/Betriebsabteilungen mit hinreichenden personeller Leitungsfunktion gerechtfertigt, weil sich nur so die Anspruchsvoraussetzungen (hoheitlich) kontrollieren lassen (eher zustimmend auch Greiser/Kador, ZESAR 2021, 383). Geht man davon aus, dass dies aber hinreichend möglich ist (vgl. oben 2. c)), entfällt die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil des LSG Essen widerspricht deutlich der restriktiven Praxis der BA und einiger Landessozialgerichte mit ihren hohen Anforderungen an die sachliche und personelle Ausstattung von ausländischen Niederlassungen und der in ihnen zentrierten personellen Entscheidungskompetenzen, damit den in Deutschland versicherten Beschäftigten der Niederlassungen auch Kurzarbeitergeld gewährt werden kann. Die Lösung des LSG Essen lässt sich nicht auf die Leistung von Kurzarbeitergeld an die Beschäftigten auf deutschen Heimatbasen ausländischer Fluggesellschaften beschränken. Sie lässt sich erweitern auf die Probleme der über IT erbrachten Dienstleistungen und der Dienstleistungen in mehrstufigen internationalen Unternehmen. Die sollten höchstrichterlich geklärt werden.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der Zahlungsanspruch ist Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, obwohl im erstinstanzlichen Verfahren allein über die Anerkennung der Voraussetzungen der Kurzarbeit entschieden worden ist und nur die beklagte BA Berufung eingelegt hatte. Der wegen Zuerkennung des Hauptantrags nicht beschiedene erstinstanzliche Hilfsantrag der Klägerin auf Auszahlung ist durch die Rechtsmitteleinlegung der Beklagten Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens geworden (hierzu BSG, Urt. v. 16.08.1990 - 4 RA 10/90; BGH, Urt. v. 18.07.2013 - III ZR 208/12; Adams in: jurisPK-SGG, § 56 Rn. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 56 Rn. 7). Grundsätzlich ist die Erweiterung des Verfahrens über einen Anerkennungsbescheid um einen zusätzlichen Antrag auf Auszahlung des Kurzarbeitergeldes eine sachdienliche Klageerweiterung (ebenso LSG München, Urt. v. 09.08.2023 - L 10 AL 130/21 Rn. 17 unter Verweis auf BSG, Urt. v. 16.08.1989 - 7 RAr 24/88). Das LSG Berlin-Brandenburg verneint dies im Urteil vom 15.02.2023 (L 18 AL 46/22 Rn. 17), ohne auch nur die Rechtsprechung des BSG zu erwähnen.



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