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Anmerkung zu:EuGH, Urteil vom 07.12.2023 - , C-441/22, EuGH, Urteil vom 07.12.2023 - C-443/22
Autoren:Dr. Pascal Friton, RA und FA für Vergaberecht,
Hanna Sophie Kurtz, RA'in
Erscheinungsdatum:14.05.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 126 BGB, § 132 GWB, § 168 GWB, § 135 GWB, § 182 GWB, EGRL 18/2004, EUV 2017/2365, EURL 24/2014
Fundstelle:jurisPR-VergR 5/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Lutz Horn, RA
Zitiervorschlag:Friton/Kurtz, jurisPR-VergR 5/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Eine „wesentliche Änderung“ setzt keine schriftliche Vereinbarung voraus



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Art. 72 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2017/2365 der Kommission vom 18.12.2017 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, um eine Änderung eines Vertrags über einen öffentlichen Auftrag als „wesentlich“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen, die Vertragsparteien keine schriftliche Vereinbarung unterzeichnet haben müssen, deren Gegenstand diese Änderung ist, wenn sich ein übereinstimmender Wille, die betreffende Änderung vorzunehmen, auch aus u.a. anderen schriftlichen Äußerungen dieser Parteien ableiten lässt.
2. Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 in der durch die Delegierte Verordnung 2017/2365 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Sorgfalt, die der öffentliche Auftraggeber an den Tag gelegt haben muss, um sich auf diese Bestimmung berufen zu können, u.a. erfordert, dass der öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung des betreffenden öffentlichen Auftrags die Risiken berücksichtigt hat, die sich für die Einhaltung der Frist für die Ausführung dieses Auftrags aus den gewöhnlichen Wetterbedingungen sowie aus den vorab bekannt gegebenen, während eines Zeitraums, der in den der Auftragsausführung fällt, geltenden gesetzlichen Verboten der Durchführung von Bauleistungen ergeben; dabei können derartige Wetterbedingungen und gesetzliche Verbote, wenn sie nicht in den das Vergabeverfahren regelnden Unterlagen vorgesehen waren, die Ausführung von Arbeiten, die die in diesen Unterlagen und dem ursprünglichen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag festgelegte Frist überschreitet, nicht rechtfertigen.



A.
Problemstellung
Im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren entschied der EuGH gleich zwei vergaberechtlich relevante Fragestellungen zu Art. 72 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU (umgesetzt in § 132 GWB): Zunächst befasste er sich ausführlich mit der Auslegung des Wesentlichkeitskriteriums einer Vertragsänderung. Dabei hatte er zu beurteilen, ob eine „wesentliche Vertragsänderung“ eine schriftliche Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien voraussetzt. Nur bei einer wesentlichen Änderung eines bestehenden Vertrages ist grundsätzlich die erneute Durchführung eines Vergabeverfahrens erforderlich.
Sodann widmete der EuGH sich dem Sorgfaltsmaßstab, den ein öffentlicher Auftraggeber bei der Vorbereitung eines öffentlichen Auftrags zu berücksichtigen hat. Eine (wesentliche) Vertragsänderung kann nämlich auch dann ohne erneute Durchführung eines Vergabeverfahrens vorgenommen werden, wenn dies aufgrund von Umständen, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber nicht vorhersehen konnte, erforderlich ist.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Dem Urteil liegen Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei bulgarischen Gemeinden und den jeweiligen Leitern der Verwaltungsbehörde über öffentlich vergebene Bauaufträge zugrunde.
Sowohl die Gemeinde Razgrad (C-441/22) als auch die Gemeinde Balchik (C-443/22) leiteten als öffentliche Auftraggeberinnen zur Durchführung der aus den europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds) finanzierten Tätigkeiten ein offenes Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags ein. In dem jeweils mit dem erfolgreichen Anbieter geschlossenen Vertrag über den öffentlichen Auftrag wurde eine Ausführungsfrist vereinbart, die in beiden Fällen unter Berufung auf unvorhersehbare Umstände – nämlich ungünstige Wetterbedingungen sowie nationale Verbotsvorschriften – und ohne Abschluss einer schriftlichen Vereinbarung verlängert wurde. Die Gemeinden machten keinen Schadensersatz geltend. Sowohl in Rechtssache C-441/22 als auch C-443/22 beschloss der jeweilige Leiter der Verwaltungsbehörde daraufhin, eine finanzielle Berichtigung der im Rahmen der ESI-Fonds förderfähigen Kosten i.H.v. 25% vorzunehmen. Diese wurde mit einem Verstoß gegen das Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge begründet: Durch die Nennung einer Höchstdauer und eines Endzeitpunktes in den Vergabeunterlagen habe die jeweilige Gemeinde wesentliche Elemente des Vertrages festgelegt, die nicht überschritten werden durften und die zugleich Zuschlagskriterien für die Angebotsbewertung dargestellt hätten. Die Überschreitung der Fristen stelle eine rechtswidrige Änderung der Bedingungen für den öffentlichen Auftrag dar. Beide Gemeinden erhoben gegen die Entscheidung Klage beim für sie zuständigen Verwaltungsgericht. Die Verwaltungsgerichte gaben der jeweiligen Klage statt und begründeten ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass eine Änderung des Vertrages über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags nur durch den Abschluss einer schriftlichen Vereinbarung vorgenommen werden könne, was in der streitgegenständlichen Konstellation nicht erfolgt sei. Eine stillschweigende Vereinbarung stelle hingegen keine Änderung dar. Bei der Überschreitung der Fristen handle es sich um eine nicht ordnungsgemäße Erfüllung des Vertrages, die nach dem Leistungsstörungsrecht zu beurteilen sei, nicht aber um eine vergaberechtlich relevante Änderung der Marktbedingungen.
Gegen die Entscheidung der beiden Verwaltungsgerichte wurde jeweils Beschwerde zum Obersten Verwaltungsgericht Bulgarien, dem vorlegenden Gericht, eingelegt.
Das vorlegende Oberste Verwaltungsgericht möchte wissen, wie Art. 72 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 4 Buchst. a und b Richtlinie 2014/24/EU auszulegen ist, um zu ermitteln, ob eine wesentliche Änderung des Vertrages über einen öffentlichen Auftrag eine schriftliche Vereinbarung zwischen den Parteien erfordert oder sich auch aus deren Handlungen ableiten lässt.
Betreffend C-443/22 begehrt das vorlegende Gericht ferner die Klarstellung der Bedeutung folgender in der Richtlinie 2014/24/EU verwendeter Begriffe: „nach vernünftigem Ermessen sogfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung“ (Erwägungsgrund 109), „unvorhersehbare Umstände“ (Erwägungsgrund 109) und „Umständen, die ein seiner Sorgfaltspflicht nachkommender öffentlicher Auftraggeber nicht vorhersehen konnte“ (Art. 72 Abs. 1 Buchst. c).
Der EuGH hat hinsichtlich der ersten Frage festgestellt, „[…], dass, um eine Änderung eines Vertrages über einen öffentlichen Auftrag als ‚wesentlich‘ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen, die Vertragsparteien keine schriftliche Vereinbarung unterzeichnet haben müssen, deren Gegenstand diese Änderung ist, wenn sich ein übereinstimmender Wille, die betreffenden Änderungen vorzunehmen, auch aus u.a. anderen schriftlichen Äußerungen dieser Parteien ableiten lässt.“ Der EuGH begründet seine Feststellung damit, dass der Wortlaut des Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU für eine Vertragsänderung, anders als Art. 2 Abs. 1 Nr. 5 derselben Richtlinie für öffentliche Aufträge, kein Schriftformerfordernis vorsehe. Erwägungsgrund 58 ordne für bestimmte Bestandteile eines Vergabeverfahrens die Schriftform an, für andere Willensbetätigungen der Parteien, wozu auch die Vertragsänderung zu zählen sei, solle hingegen weiterhin die mündliche Kommunikation möglich sein, solange ihr Inhalt hinreichend dokumentiert werde. Auch Sinn und Zweck der Regelung spreche für dieses Verständnis: Insbesondere Art. 72 stelle durch die Festlegung der Bedingungen, unter denen bestehende öffentliche Aufträge geändert werden können, die Einhaltung der vergaberechtlichen Grundsätze der Transparenz der Verfahren und der Gleichbehandlung der Bieter sicher. Um die Beachtung dieser Grundsätze auch in der Praxis zu gewährleisten, könne es für die Einstufung einer Änderung als „wesentlich“ nicht darauf ankommen, ob eine schriftliche Vereinbarung der Parteien vorliegt, deren Gegenstand die Änderung ist. Würde die Feststellung der Wesentlichkeit einer Änderung von einer Schriftform abhängig gemacht, würde dies gerade die Umgehung der Vorschrift erleichtern, indem – bloß mündliche – Änderungen zwischen den Parteien vorgenommen werden könnten, ohne dass Dritte diese Änderungen ohne Durchführung eines erneuten Vergabeverfahrens rügen könnten. Schließlich sehe auch Erwägungsgrund 107 der Richtlinie vor, dass Vertragsänderungen als wesentlich gelten, wenn sie Ausdruck der Absicht der Parteien sind, wesentliche Bedingungen des Auftrags neu zu verhandeln. Nach Überzeugung des EuGH könne eine übereinstimmende Absicht auch in anderer Form als durch eine schriftliche Vereinbarung zum Ausdruck gelangen. Allerdings müsse sich die Absicht „auch aus u.a. anderen schriftlichen Äußerungen“ außerhalb der Vertragsurkunde ableiten lassen.
Bezüglich der zweiten Vorlagefrage hat der EuGH unter Verweis auf den Wortlaut des Erwägungsgrunds 109 festgestellt, dass Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziffer i der Richtlinie 2014/24/EU dahin gehend auszulegen ist, dass die Sorgfalt, die der öffentliche Auftraggeber an den Tag gelegt haben muss, um sich auf diese Bestimmung berufen zu können, u.a. erfordert, dass er bei der Vorbereitung des betreffenden öffentlichen Auftrages die Risiken berücksichtigt hat, die sich für die Einhaltung der konkreten Vertragsbedingungen ergeben können. Vorliegend konnten die Wetterbedingungen und vorab bekannt gegebenen gesetzlichen Verbote eine Überschreitung der Ausführungsfrist nicht rechtfertigen. Der EuGH verwies insoweit ausdrücklich auf die Möglichkeit des Auftraggebers, eine Überprüfungsklausel oder Option i.S.v. Art. 72 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/24/EU zu vereinbaren, vgl. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB. Durch einen solchen Vorbehalt der Änderung gewährleiste der öffentliche Auftraggeber, dass sämtliche Interessenten hiervon von Anfang an Kenntnis haben und dadurch bei der Erstellung ihres Angebots gleichgestellt sind.


C.
Kontext der Entscheidung
Art. 72 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/24/EU führt die Fälle auf, in denen Aufträge und Rahmenvereinbarungen ohne Durchführung eines erneuten Vergabeverfahrens (wesentlich) geändert werden können. In allen anderen Fällen ist nach Art. 72 Abs. 5 der Richtlinie ein neues Vergabeverfahren erforderlich. Der hier maßgebliche Art. 72 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU wurde auf nationaler Ebene in § 132 Abs. 1 Satz 2 und 3 Nr. 1-4 GWB umgesetzt, während § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 GWB dem Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziffer i der Richtlinie 2014/24/EU entspricht.
Mit der vorliegenden Entscheidung ergänzt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung, indem er feststellt, dass eine wesentliche Vertragsänderung unabhängig von deren konkreter Form ist. Maßgeblich sei vielmehr, dass der übereinstimmende Parteiwille, eine Änderung vorzunehmen, zum Ausdruck komme. Die bisherige, von einigen nationalen Vergabekammern und Oberlandesgerichten vertretene Auffassung, dass in der dem übereinstimmenden Willen der Parteien entsprechenden Überschreitung der Ausführungsfrist keine (konkludente) Vertragsänderung zu sehen sei (vgl. VK Darmstadt, Beschl. v. 18.11.2015 - 69d VK-42/2015; OLG Frankfurt, Beschl. v. 03.05.2016 - 11 Verg 12/15), kann nicht mehr überzeugen (vgl. auch Ziekow in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 5. Aufl. 2024, § 132 GWB Rn. 30).
Mit seiner Entscheidung trägt der EuGH den Grundsätzen des Vergaberechts, namentlich dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgebot, Rechnung. Er führt überzeugend aus, dass die Beurteilung, ob eine wesentliche Vertragsänderung vorliegt, der Disposition der Parteien nicht insoweit unterliegen darf, dass sie durch die Wahl der konkreten Form ihrer Vereinbarung Einfluss auf die Einordnung als wesentliche Vertragsänderung haben. Weder für die Vertragsparteien noch einen Mitanbieter kommt es auf die Form der konkreten Änderung an. Maßgeblich, auch für die Beurteilung etwaiger Rechtsschutzmöglichkeiten, ist vielmehr der konkrete Inhalt der Änderung, der sich unabhängig von der Form aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien ergibt.
Das stellt sich auch unter Berücksichtigung der grundsätzlichen – jedenfalls nationalen – Formfreiheit von Rechtsgeschäften als kohärent dar. Es ist unumstritten, dass eine Vereinbarung zwischen Vertragsparteien keiner bestimmten Form bedarf, sondern mündlich oder auch konkludent erfolgen kann. Anderes gilt nur dann, wenn ausnahmsweise eine strengere Form vorgeschrieben ist, vgl. § 126 BGB. Das sieht – worauf der EuGH zu Recht hinweist – Art. 72 der Richtlinie, anders als beispielsweise Art. 2 Abs. 1 Nr. 2 Richtlinie 2014/24/EU, indes gerade nicht vor.
Die Auslegung des Sorgfaltsmaßstabs des öffentlichen Auftraggebers aus Art. 72 Abs. 1 Bucht. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24/EU im Lichte des 109. Erwägungsgrundes entspricht der bisherigen Literatur zu § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2, Abs. 5 GWB. Maßgeblich ist demnach die ex-ante-Sicht zum Zeitpunkt der Ausschreibung, wobei ein objektiver Sorgfaltsmaßstab gilt und auf eine vernünftige Vorbereitung der Ausschreibung abzustellen ist (vgl. Ritzenhoff in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Aufl. 2019, § 132 Rn. 48; Ziekow in: Ziekow/Völlink, § 132 Rn. 53). Die Entscheidung des EuGH fügt sich in die einschlägige Literatur und die dort ebenfalls prophezeite Einzelfallrechtsprechung (vgl. Jaeger in: MünchKomm zum Wettbewerbsrecht, 4. Aufl. 2022, § 132 Rn. 42; Mertens in: BeckOK Vergaberecht, 31. Edition, § 132 Rn. 81) ein. Dem EuGH kann insofern nur zugestimmt werden. Insbesondere in bestimmten Monaten ist mit einer wetterbedingten Verzögerung der Bauleistungen (zwingend) zu rechnen. Nationale Verbotsvorschriften, die wie hier die Durchführung von Bauvorhaben in den Sommermonaten untersagen, sind selbst bei einem nur durchschnittlich sorgfältigen öffentlichen Auftraggeber als bekannt vorauszusetzen und daher schon bei dessen Planung der Ausschreibung zu berücksichtigen. Weder übliche Wetterbedingungen noch bereits bestehende, nationale Vorschriften können eine Vertragsänderung ohne erneute Durchführung eines Vergabeverfahrens rechtfertigen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis bringt die Entscheidung des EuGH zunächst Rechtsklarheit dahin gehend, dass eine wesentliche Änderung i.S.d. § 132 Abs. 1 Satz 1 GWB keine schriftliche Vereinbarung erfordert. Gleichwohl stellen sich im Hinblick auf die Überschreitung von Ausführungsfristen verschiedene Folgefragen, mit denen sich der EuGH aufgrund des ihm vorliegenden Sachverhalts nicht auseinandersetzen musste.
Zunächst muss es sich bei der Überschreitung einer Ausführungsfrist überhaupt um eine Vertragsänderung handeln. Ohne schriftliche Dokumentierung ist nämlich häufig nicht klar, ob der Überschreitung der Ausführungsfrist eine übereinstimmende Verlängerung der Ausführungsfrist zugrunde liegt oder ob eine (einseitige) Pflichtverletzung durch den Auftragnehmer vorliegt. Ist Letzteres der Fall und macht der Auftraggeber Leistungsstörungsrechte oder etwaige vertraglich vorgesehene Vertragsstrafen geltend, dürfte wohl kaum von einer wesentlichen Vertragsänderung gesprochen werden, weil der Auftraggeber die Änderung nicht akzeptiert. Legt man dieses Verständnis zugrunde, liegt jedenfalls die (Schutz-)Behauptung des Auftraggebers gegenüber Wettbewerbern auf der Hand, er habe sich noch nicht entschieden, ob er vertragliche oder gesetzliche (Leistungsstörungs-)Rechte in Anspruch nehmen möchte. Im Nachprüfungsverfahren ist es jedenfalls nicht einfach, den Auftraggeber zu zwingen, solche Rechte gegenüber dem Auftragnehmer geltend zu machen. Der öffentliche Auftraggeber ist zwar nach haushaltsrechtlichen Vorschriften dazu verpflichtet, Schadensersatzansprüche gegenüber dem Auftragnehmer gelten zu machen. Dem Wettbewerber steht jedoch kein korrespondierendes subjektives Recht zu. Die haushaltsrechtlichen Regelungen binden nur die öffentliche Hand (vgl. VK Darmstadt, Beschl. v. 18.11.2015 - 69d VK-42/2015 Rn. 38). Andererseits verleiht § 168 Abs. 1 GWB der Vergabekammer auch weitgehende Rechte, die für diesen Fall genutzt werden können. Jedenfalls möglich erscheint eine Aussetzung des Nachprüfungsverfahrens mit Fristsetzung gegenüber dem Auftraggeber zur Stellungnahme, welchen Weg dieser gehen möchte. Eine weitere Möglichkeit wäre es, nach Ablauf einer gewissen Zeit, in der der Auftraggeber keinerlei Leistungsstörungsrechte geltend gemacht hat, zu vermuten, dass eine Vertragsänderung übereinstimmend vorgenommen wurde.
Darüber hinaus stellt sich der Frage der Nachweisbarkeit einer mündlichen Vertragsänderung. Denn ein Wettbewerber hätte als Antragsteller in einem Nachprüfungsverfahren hierfür die Darlegungs- und Beweislast zu tragen (vgl. Jaeger in: MünchKomm Wettbewerbsrecht, 4. Aufl. 2022, § 132 Rn. 69). Den Nachweis, dass die Vertragsparteien wesentliche Änderungen vorgenommen haben, die aber nicht in der Vertragsurkunde selbst verschriftlicht, sondern bloß mündlich oder konkludent getroffen wurden, wird in der Praxis nicht ohne Weiteres zu führen sein. Vielmehr muss der rügende/antragstellende Mitanbieter auf Akteneinsicht oder die sekundäre Darlegungslast der Vertragsparteien vertrauen. Der Verweis des EuGH auf „u.a. schriftlichen Äußerungen“ greift hier jedenfalls etwas zu kurz und wird der Problematik nicht gerecht.
Abschließend stellt sich noch die in der Praxis ebenfalls maßgebliche Frage, wann die sechsmonatige Frist gemäß § 135 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GWB in den Fällen bloß mündlicher oder sogar konkludenter Vertragsänderung zu laufen beginnt. Nach der Rechtsprechung wird die Frist unabhängig von der tatsächlichen Kenntnis des Wettbewerbers ausgelöst und läuft auch unabhängig davon ab (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 04.11.2014 - 1 Verg 1/14 Rn. 61; OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.12.2011 - Verg W 14/11 Rn. 6). Der Zeitpunkt einer mündlichen oder konkludenten Vertragsänderung wird in der Regel nicht genau bestimmt werden können, da es häufig an einem konkreten Datum fehlt. Die Bestimmung wird zusätzlich erschwert, wenn der Auftraggeber ein ihm grundsätzlich zustehendes Leistungsstörungsrecht (noch) nicht ausgeübt hat, so dass jedenfalls aus Sicht eines Dritten offenbleibt, ob eine übereinstimmende Vertragsänderung überhaupt erfolgt ist und damit die Frist des § 135 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GWB zu laufen beginnt. Vergleichbar zu Unsicherheiten, ob und wann ein Vertrag erstmalig abgeschlossen worden ist, kann die Unsicherheit darüber, ob und wann eine Vertragsänderung vorgenommen wurde, eigentlich nicht zulasten des Wettbewerbs gehen (vgl. OLG München, Beschl. v. 22.06.2011 - Verg 6/11 Rn. 60). Denkbar wäre es, die Frist des § 135 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 GWB in diesen Situationen nicht anzuwenden, weil der Auftraggeber sich treuwidrig verhalten hat. Da aber fraglich ist, ob die Rechtsprechung einer solchen Argumentation folgen würde, ist Wettbewerbern zu raten, zunächst durch Rückfragen und/oder Rügen beim Auftraggeber den Sachverhalt zu ermitteln. Wenn das nicht gelingt, sollte trotz eines gewissen Prozesskostenrisikos möglichst früh ein Nachprüfungsantrag gestellt werden. Die Vergabekammern dürften dann je nach Ausgang des Verfahrens bei ihrer Kostenentscheidung berücksichtigen, dass der Antragsteller aufgrund der „Hinhaltetaktik“ des Auftraggebers ein nicht unerhebliches Prozessrisiko zu tragen hatte und jener bei einer eindeutigen Tatsachenlage seinen Antrag ggf. nicht gestellt hätte. Im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes wäre es daher billig, diesen Umstand selbst bei einem Unterliegen des Antragstellers im Rahmen der Kosten zu würdigen, vgl. § 182 Abs. 3 Satz 3 GWB.



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