Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Auftraggeber hat in einem offenen Verfahren die Erstellung der technisch-wirtschaftlichen Dokumentation im Hinblick auf den Bau einer Kreisstraße ausgeschrieben. Für die Auftragsausführung waren Regelungen maßgeblich, die u.a. den Bau, die Modernisierung, Wartung und Instandsetzung von Eisenbahninfrastruktur betreffen, wobei diese Regelungen nur einen untergeordneten Teil des Gesamtauftrags ausmachten. Die Zahl der Wettbewerber, die für diese besonderen Tätigkeiten in Betracht kommt, war begrenzt, da für die Ausübung der Tätigkeit eine Zulassung durch die Eisenbahnbehörde erforderlich ist. Auf die entsprechenden Regelungen wurde in den Auftragsunterlagen nicht hingewiesen.
In dem Ausgangsrechtsstreit beanstandete der unterlegene Bieter die von dem öffentlichen Auftraggeber vorgenommene Wertung und hat zur Begründung ausgeführt, der Auftraggeber habe unberücksichtigt gelassen, dass die in der Gesamtwertung vor ihm liegenden Bieter die für einen Teil der auszuführenden Leistungen geltenden gesetzlichen Spezialvorschriften nicht eingehalten hätten, auch wenn diese nicht in den Auftragsunterlagen vorgegeben gewesen seien. Der für den Zuschlag vorgesehene Bieter habe nicht angegeben, auf welche Unterauftragnehmer er zur Ausführung dieser Tätigkeiten zurückgreifen wolle.
Eine entsprechende Vorgabe zur Vorlage einer Nachunternehmererklärung war in den Auftragsunterlagen nicht enthalten. Der erfolgreiche Bieter erklärte, er werde die möglicherweise auszuführenden Tätigkeiten „bei Bedarf“ selbst ausführen und legte Verpflichtungserklärungen passender Gutachter vor, die ihn bei der Leistungsausführung unterstützen würden.
Das vorlegende Gericht möchte mit den Vorlagefragen im Wesentlichen das Verhältnis von gesetzlichen Spezialvorschriften zu den Vorgaben in den Auftragsunterlagen klären. Insbesondere geht es um die Fragen, ob und in welchem Umfang gesetzliche Vorgaben die Auftragsunterlagen ohne expliziten Verweis darauf ergänzen und die Bieter daher entsprechende Nachweise vorzulegen haben. Das vorlegende Gericht sah eine Ergänzung der Unterlagen im Ausgangsrechtsstreit kritisch, weil durch das Erfordernis der Zulassung durch die Eisenbahnbehörde eine drastische Verringerung des Wettbewerbs vorliege. Die automatische Ergänzung der in den Auftragsunterlagen vorgesehenen Eignungskriterien durch Vorgaben in gesetzlichen Vorschriften verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und unterlaufe das dem Auftraggeber bei der Festlegung von Eignungskriterien zustehende Ermessen. Die an dem Vergabeverfahren teilnehmenden Bieter hätten zudem keine Chance, die kraft Gesetzes geltenden Eignungskriterien anzugreifen. Schließlich müsse eine einfache Verfügbarkeitserklärung der Ressourcen eines Drittunternehmens jedenfalls dann ausreichen, wenn die gesetzlichen Vorgaben nicht vom Auftraggeber als Eignungskriterien vorgegeben würden und für die Auftragsausführung von nur untergeordneter Bedeutung seien. Ausgehend von dieser Einschätzung richtete die vorlegende Einrichtung insgesamt drei Vorlagefragen an den EuGH:
Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, „ob Art. 58 der Richtlinie 2014/24 (EU) i.V.m. den in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie garantierten Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Transparenz dahin auszulegen ist, dass der öffentliche Auftraggeber als Eignungskriterien Verpflichtungen vorschreiben kann, die sich aus Spezialvorschriften für Tätigkeiten ergeben, die im Rahmen der Ausführung eines öffentlichen Auftrags möglicherweise durchgeführt werden müssen und die von geringer Bedeutung sind“.
Diese Frage bejahte der EuGH und verwies zur Begründung auf den sich aus Art. 58 der Richtlinie 2014/24/EU für den Auftraggeber ergebenden Ermessensspielraum bei der Festlegung der Eignungskriterien, soweit diese sich im Rahmen der vorgegebenen Kategorien (Befähigung zur Berufsausübung, wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit, technische und berufliche Leistungsfähigkeit) bewegen und mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Dieser Ermessensspielraum erlaube es dem öffentlichen Auftraggeber im Rahmen der Festlegung der Eignungskriterien auch, sich aus gesetzlichen Spezialvorschriften für bestimmte Tätigkeiten ergebende Verpflichtungen zu berücksichtigen. Dies gelte auch dann, wenn die entsprechenden Tätigkeiten nur möglicherweise auszuführen sind und im Verhältnis zum Gesamtauftrag nur eine untergeordnete Rolle einnehmen. Aus den gleichen Gründen könne der Auftraggeber seinen Ermessenspielraum aber auch dahin gehend ausüben, dass er von der Festlegung der sich aus Spezialvorschriften ergebenden Verpflichtungen als Eignungskriterien ganz absehe oder alternativ die Vorgaben als Bedingungen für die Auftragsausführung vorgebe, so dass die Verpflichtungen nur dem erfolgreichen Bieter auferlegt würden. Durch die Richtlinie 2014/24/EU sei es nicht ausgeschlossen, dass bestimmte technische Vorgaben zugleich als Eignungskriterien, technische Spezifikationen und/oder als Bedingungen für die Auftragsausführung angesehen werden können.
Der EuGH stellt erläuternd aber klar, dass es sich bei der Verpflichtung der Bieter, bereits im Zeitpunkt der Angebotsabgabe alle Bedingungen für die Auftragsausführung zu erfüllen, um eine „übertriebene Anforderung“ handle, die die Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme am Vergabeverfahren abhalten könne und aus diesem Grund gegen die Grundsätze der Transparenz und Verhältnismäßigkeit verstoße.
Das vorlegende Gericht wollte mit der zweiten Vorlagefrage wissen, „ob die in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/24 (EU) garantierten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Auftragsunterlagen automatisch durch Qualifikationskriterien ergänzt werden, die sich aus für Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem zu vergebenden Auftrag geltenden Spezialvorschriften ergeben, die in den Auftragsunterlagen nicht vorgesehen sind und die der öffentliche Auftraggeber den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern nicht vorschreiben wollte“.
Der EuGH verneinte diese Frage und stellt klar, dass es das dem Auftraggeber zustehende Ermessen aushöhlte, wenn die sich aus gesetzlichen Vorschriften ergebenden Anforderungen automatisch zu den vom Auftraggeber vorgesehenen Vorgaben hinzutreten würden.
Mit der Vorlagefrage 3a möchte das vorlegende Gericht schließlich wissen, „ob Art. 63 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 (EU) dahin auszulegen ist, dass es dem Ausschluss eines Bieters aus dem Vergabeverfahren mit der Begründung, dass er den Unterauftragnehmer nicht benannt habe, dem er die Erfüllung von Verpflichtungen zu übertragen beabsichtige, die sich aus Spezialvorschriften für Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Auftrag ergäben und die in den Auftragsunterlagen nicht vorgesehen seien, entgegensteht, wenn dieser Bieter in seinem Angebot angegeben hat, dass er diese Verpflichtungen unter Inanspruchnahme der Kapazitäten eines anderen Unternehmens erfüllen werde, ohne jedoch mit diesem Unternehmen durch einen Unterauftrag verbunden zu sein“.
Diese Frage bejahte der EuGH und erläuterte anknüpfend an die Beantwortung der ersten Vorlagefrage, dass die Erfüllung von auf gesetzliche Spezialvorschriften zurückgehenden Ausführungsbedingungen durch einen Bieter im Zeitpunkt der Einreichung des Angebots der Vergabe eines Auftrags an diesen Bieter gemessen an den Bestimmungen der Richtlinie 2014/24/EU nicht entgegenstehe. Sofern es sich bei den sich aus Spezialvorschriften ergebenden Verpflichtungen tatsächlich um Eignungskriterien handle, genüge der Hinweis auf Art. 63 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU, nach welcher es allen Bietern freistehe, für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen zurückzugreifen. Der Richtlinientext eröffne einem Wirtschaftsteilnehmer diese Möglichkeit ausdrücklich „ungeachtet des Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden rechtlichen Beziehungen“, so dass es auf das Bestehen eines Unterauftrags nicht ankommen könne und vielmehr auch die Vorlage einer Verpflichtungserklärung ausreiche, durch die gegenüber dem Auftraggeber nachgewiesen werde, dass dem Bieter die erforderlichen Mittel zur Ausführung eines Auftrags zur Verfügung stünden.
Die letzte Vorlagefrage 3b des vorlegenden Gerichts ist darauf gerichtet, „ob Art. 63 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU i.V.m. dem in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass einem Wirtschaftsteilnehmer das Recht zusteht, seine eigene Organisation und seine vertraglichen Beziehungen innerhalb des Konsortiums mit der Möglichkeit zu bestimmen, Leistungserbringer oder Lieferanten in einen Auftrag einzubeziehen, wenn der betreffende Leistungserbringer nicht zu den Unternehmen gehört, auf deren Leistungsfähigkeit sich der Bieter zum Nachweis der Erfüllung der maßgeblichen Kriterien stützen will“.
Die Vorlagefrage 3b ließ der EuGH im Ergebnis unbeantwortet, da der vorlegende Nationale Rat für Beschwerdeentscheidungen nach Auffassung des EuGH den rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits insoweit nicht ausreichend erläutert habe. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens könnten jedoch keine „Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen“ geklärt werden, sondern nur solche Fragen, die „für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits objektiv erforderlich sind“.