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Anmerkung zu:EuGH, Urteil vom 26.01.2023 - C-403/21
Autoren:Dr. Jan Peter Müller, RA und FA für Vergaberecht,
Johanna Ott, RA'in
Erscheinungsdatum:12.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:EURL 24/2014, 12016E267
Fundstelle:jurisPR-VergR 9/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Lutz Horn, RA
Zitiervorschlag:Müller/Ott, jurisPR-VergR 9/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Auswirkungen gesetzlicher Vorgaben auf die Wahl der Eignungskriterien



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Es liegt im Ermessen des Auftraggebers, Verpflichtungen, die sich aus „Spezialvorschriften“ für die auszuführenden Tätigkeiten ergeben, als Eignungskriterien vorzugeben.
2. Dies gilt auch dann, wenn die Tätigkeiten im Rahmen eines öffentlichen Auftrags nur möglicherweise durchgeführt werden müssen und von untergeordneter Bedeutung sind.
3. Vom Auftraggeber vorgegebene Eignungskriterien werden nicht durch sich aus gesetzlichen Vorschriften ergebende Qualifikationskriterien automatisch ergänzt.
4. Es kann von einem Bieter nicht verlangt werden, dass er den Unterauftragnehmer benennt, dem die Erfüllung von sich aus gesetzlichen Spezialvorschriften ergebenden Anforderungen übertragen werden soll, wenn er die Inanspruchnahme dieses Unternehmens nicht auf der Grundlage eines Unterauftrags auszugestalten gedenkt.
5. Ein darauf gestützter Ausschluss eines Bieters ist unwirksam.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung des EuGH befasst sich mit der Reichweite des Ermessenspielraums des öffentlichen Auftraggebers bei der Festlegung von Eignungskriterien und der Möglichkeit der Einschränkung dieses Ermessensspielraums durch gesetzliche Spezialvorschriften zu den auszuführenden Tätigkeiten.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Auftraggeber hat in einem offenen Verfahren die Erstellung der technisch-wirtschaftlichen Dokumentation im Hinblick auf den Bau einer Kreisstraße ausgeschrieben. Für die Auftragsausführung waren Regelungen maßgeblich, die u.a. den Bau, die Modernisierung, Wartung und Instandsetzung von Eisenbahninfrastruktur betreffen, wobei diese Regelungen nur einen untergeordneten Teil des Gesamtauftrags ausmachten. Die Zahl der Wettbewerber, die für diese besonderen Tätigkeiten in Betracht kommt, war begrenzt, da für die Ausübung der Tätigkeit eine Zulassung durch die Eisenbahnbehörde erforderlich ist. Auf die entsprechenden Regelungen wurde in den Auftragsunterlagen nicht hingewiesen.
In dem Ausgangsrechtsstreit beanstandete der unterlegene Bieter die von dem öffentlichen Auftraggeber vorgenommene Wertung und hat zur Begründung ausgeführt, der Auftraggeber habe unberücksichtigt gelassen, dass die in der Gesamtwertung vor ihm liegenden Bieter die für einen Teil der auszuführenden Leistungen geltenden gesetzlichen Spezialvorschriften nicht eingehalten hätten, auch wenn diese nicht in den Auftragsunterlagen vorgegeben gewesen seien. Der für den Zuschlag vorgesehene Bieter habe nicht angegeben, auf welche Unterauftragnehmer er zur Ausführung dieser Tätigkeiten zurückgreifen wolle.
Eine entsprechende Vorgabe zur Vorlage einer Nachunternehmererklärung war in den Auftragsunterlagen nicht enthalten. Der erfolgreiche Bieter erklärte, er werde die möglicherweise auszuführenden Tätigkeiten „bei Bedarf“ selbst ausführen und legte Verpflichtungserklärungen passender Gutachter vor, die ihn bei der Leistungsausführung unterstützen würden.
Das vorlegende Gericht möchte mit den Vorlagefragen im Wesentlichen das Verhältnis von gesetzlichen Spezialvorschriften zu den Vorgaben in den Auftragsunterlagen klären. Insbesondere geht es um die Fragen, ob und in welchem Umfang gesetzliche Vorgaben die Auftragsunterlagen ohne expliziten Verweis darauf ergänzen und die Bieter daher entsprechende Nachweise vorzulegen haben. Das vorlegende Gericht sah eine Ergänzung der Unterlagen im Ausgangsrechtsstreit kritisch, weil durch das Erfordernis der Zulassung durch die Eisenbahnbehörde eine drastische Verringerung des Wettbewerbs vorliege. Die automatische Ergänzung der in den Auftragsunterlagen vorgesehenen Eignungskriterien durch Vorgaben in gesetzlichen Vorschriften verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und unterlaufe das dem Auftraggeber bei der Festlegung von Eignungskriterien zustehende Ermessen. Die an dem Vergabeverfahren teilnehmenden Bieter hätten zudem keine Chance, die kraft Gesetzes geltenden Eignungskriterien anzugreifen. Schließlich müsse eine einfache Verfügbarkeitserklärung der Ressourcen eines Drittunternehmens jedenfalls dann ausreichen, wenn die gesetzlichen Vorgaben nicht vom Auftraggeber als Eignungskriterien vorgegeben würden und für die Auftragsausführung von nur untergeordneter Bedeutung seien. Ausgehend von dieser Einschätzung richtete die vorlegende Einrichtung insgesamt drei Vorlagefragen an den EuGH:
Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, „ob Art. 58 der Richtlinie 2014/24 (EU) i.V.m. den in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie garantierten Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Transparenz dahin auszulegen ist, dass der öffentliche Auftraggeber als Eignungskriterien Verpflichtungen vorschreiben kann, die sich aus Spezialvorschriften für Tätigkeiten ergeben, die im Rahmen der Ausführung eines öffentlichen Auftrags möglicherweise durchgeführt werden müssen und die von geringer Bedeutung sind“.
Diese Frage bejahte der EuGH und verwies zur Begründung auf den sich aus Art. 58 der Richtlinie 2014/24/EU für den Auftraggeber ergebenden Ermessensspielraum bei der Festlegung der Eignungskriterien, soweit diese sich im Rahmen der vorgegebenen Kategorien (Befähigung zur Berufsausübung, wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit, technische und berufliche Leistungsfähigkeit) bewegen und mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Dieser Ermessensspielraum erlaube es dem öffentlichen Auftraggeber im Rahmen der Festlegung der Eignungskriterien auch, sich aus gesetzlichen Spezialvorschriften für bestimmte Tätigkeiten ergebende Verpflichtungen zu berücksichtigen. Dies gelte auch dann, wenn die entsprechenden Tätigkeiten nur möglicherweise auszuführen sind und im Verhältnis zum Gesamtauftrag nur eine untergeordnete Rolle einnehmen. Aus den gleichen Gründen könne der Auftraggeber seinen Ermessenspielraum aber auch dahin gehend ausüben, dass er von der Festlegung der sich aus Spezialvorschriften ergebenden Verpflichtungen als Eignungskriterien ganz absehe oder alternativ die Vorgaben als Bedingungen für die Auftragsausführung vorgebe, so dass die Verpflichtungen nur dem erfolgreichen Bieter auferlegt würden. Durch die Richtlinie 2014/24/EU sei es nicht ausgeschlossen, dass bestimmte technische Vorgaben zugleich als Eignungskriterien, technische Spezifikationen und/oder als Bedingungen für die Auftragsausführung angesehen werden können.
Der EuGH stellt erläuternd aber klar, dass es sich bei der Verpflichtung der Bieter, bereits im Zeitpunkt der Angebotsabgabe alle Bedingungen für die Auftragsausführung zu erfüllen, um eine „übertriebene Anforderung“ handle, die die Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme am Vergabeverfahren abhalten könne und aus diesem Grund gegen die Grundsätze der Transparenz und Verhältnismäßigkeit verstoße.
Das vorlegende Gericht wollte mit der zweiten Vorlagefrage wissen, „ob die in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/24 (EU) garantierten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Auftragsunterlagen automatisch durch Qualifikationskriterien ergänzt werden, die sich aus für Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem zu vergebenden Auftrag geltenden Spezialvorschriften ergeben, die in den Auftragsunterlagen nicht vorgesehen sind und die der öffentliche Auftraggeber den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern nicht vorschreiben wollte“.
Der EuGH verneinte diese Frage und stellt klar, dass es das dem Auftraggeber zustehende Ermessen aushöhlte, wenn die sich aus gesetzlichen Vorschriften ergebenden Anforderungen automatisch zu den vom Auftraggeber vorgesehenen Vorgaben hinzutreten würden.
Mit der Vorlagefrage 3a möchte das vorlegende Gericht schließlich wissen, „ob Art. 63 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 (EU) dahin auszulegen ist, dass es dem Ausschluss eines Bieters aus dem Vergabeverfahren mit der Begründung, dass er den Unterauftragnehmer nicht benannt habe, dem er die Erfüllung von Verpflichtungen zu übertragen beabsichtige, die sich aus Spezialvorschriften für Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Auftrag ergäben und die in den Auftragsunterlagen nicht vorgesehen seien, entgegensteht, wenn dieser Bieter in seinem Angebot angegeben hat, dass er diese Verpflichtungen unter Inanspruchnahme der Kapazitäten eines anderen Unternehmens erfüllen werde, ohne jedoch mit diesem Unternehmen durch einen Unterauftrag verbunden zu sein“.
Diese Frage bejahte der EuGH und erläuterte anknüpfend an die Beantwortung der ersten Vorlagefrage, dass die Erfüllung von auf gesetzliche Spezialvorschriften zurückgehenden Ausführungsbedingungen durch einen Bieter im Zeitpunkt der Einreichung des Angebots der Vergabe eines Auftrags an diesen Bieter gemessen an den Bestimmungen der Richtlinie 2014/24/EU nicht entgegenstehe. Sofern es sich bei den sich aus Spezialvorschriften ergebenden Verpflichtungen tatsächlich um Eignungskriterien handle, genüge der Hinweis auf Art. 63 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU, nach welcher es allen Bietern freistehe, für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen zurückzugreifen. Der Richtlinientext eröffne einem Wirtschaftsteilnehmer diese Möglichkeit ausdrücklich „ungeachtet des Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden rechtlichen Beziehungen“, so dass es auf das Bestehen eines Unterauftrags nicht ankommen könne und vielmehr auch die Vorlage einer Verpflichtungserklärung ausreiche, durch die gegenüber dem Auftraggeber nachgewiesen werde, dass dem Bieter die erforderlichen Mittel zur Ausführung eines Auftrags zur Verfügung stünden.
Die letzte Vorlagefrage 3b des vorlegenden Gerichts ist darauf gerichtet, „ob Art. 63 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU i.V.m. dem in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass einem Wirtschaftsteilnehmer das Recht zusteht, seine eigene Organisation und seine vertraglichen Beziehungen innerhalb des Konsortiums mit der Möglichkeit zu bestimmen, Leistungserbringer oder Lieferanten in einen Auftrag einzubeziehen, wenn der betreffende Leistungserbringer nicht zu den Unternehmen gehört, auf deren Leistungsfähigkeit sich der Bieter zum Nachweis der Erfüllung der maßgeblichen Kriterien stützen will“.
Die Vorlagefrage 3b ließ der EuGH im Ergebnis unbeantwortet, da der vorlegende Nationale Rat für Beschwerdeentscheidungen nach Auffassung des EuGH den rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits insoweit nicht ausreichend erläutert habe. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens könnten jedoch keine „Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen“ geklärt werden, sondern nur solche Fragen, die „für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits objektiv erforderlich sind“.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung betrifft mit der Festlegung der Eignungskriterien und der Reichweite des Ermessensspielraums des Auftraggebers vergaberechtliche Fragen, die für alle Vergabeverfahren von Relevanz sind. Insoweit enthält die Entscheidung zwar nichts wesentlich Neues, bietet aber Gelegenheit, die in der Praxis vielfach zu Schwierigkeiten führende Frage der Abgrenzung zwischen Unterauftragsvergabe und Eignungsleihe aufzugreifen.
Es ist konsequent, dass die fehlende Angabe der Unterauftragnehmer in Bezug auf bestimmte Leistungen auf der Grundlage technischer Spezialvorschriften nicht zwingend zum Ausschluss eines Bieters führt, da die Angabe einer Nachunternehmererklärung nur dann gefordert werden kann, wenn der Einsatz eines Nachunternehmers für bestimmte Leistungen auch tatsächlich bereits im Zeitpunkt der Angebotsabgabe beabsichtigt ist. In diesen Fällen wird es sich zwar oft auch zugleich um einen Fall der Eignungsleihe handeln, zwingend ist dies aber nicht. Bei einer isolierten Eignungsleihe ist die Vorlage einer Verpflichtungserklärung völlig ausreichend.
Da in dem Ausgangsrechtsstreit weder in der Bekanntmachung noch in den Auftragsunterlagen irgendeine Eignungsanforderung aufgestellt oder ein konkreter Nachweis gefordert worden war, hätte der EuGH bereits mit Verweis auf das Fehlen einer entsprechenden Vorlage der Nachunternehmererklärung das Ansinnen des unterlegenen Bieters zurückweisen können, den für den Zuschlag vorgesehenen Bieter infolge des Fehlens einer solchen Unterlage auszuschließen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung enthält keine grundlegend neuen Informationen, betont und stärkt aber die Position des Auftraggebers bei der Festlegung von Eignungskriterien und der Gestaltung der Vergabeunterlagen insgesamt. Auch wenn sich für bestimmte Tätigkeiten aus gesetzlichen Spezialvorschriften Verpflichtungen ergeben, werden diese nicht automatisch zu Eignungskriterien oder auf sonstige Weise Gegenstand eines Vergabeverfahrens. Dem Auftraggeber kommt insofern vielmehr eine „Filterfunktion“ zu, die es ihm ermöglicht, im Einzelfall die Notwendigkeit der Übernahme von sich aus gesetzlichen Vorgaben ergebenden Anforderungen in die Vergabeunterlagen zu beurteilen. Von dieser Möglichkeit sollten die Auftraggeber allerdings auch sorgfältig Gebrauch machen und insbesondere sicherstellen, dass leistungsbezogene Vorgaben berücksichtigt werden, um auf ihre etwaige Nichteinhaltung im Wege des Leistungsstörungsrechts reagieren zu können.
Die Entscheidung bezieht sich vor allem auf die berufliche und technische Leistungsfähigkeit. Für die Vorgaben des Auftraggebers zur Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung dürfte es jedoch weiterhin ausreichend sein, einen „Nachweis der Erlaubnis zur Berufsausübung je nach den Rechtsvorschriften des Staats, in dem der Bewerber niedergelassen ist“ zu fordern, ohne dass diese Vorschriften im Einzelnen zu benennen sind.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der EuGH prüft detailliert die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und geht dabei insbesondere darauf ein, ob der vorlegende Consiliul Național de Soluționare a Contestațiilor (Nationaler Rat für Beschwerdeentscheidungen) als „Gericht“ i.S.d. Art. 267 AEUV anzusehen ist. Nach rumänischem Recht besteht parallel zu der Möglichkeit der Anrufung des Nationalen Rats für Beschwerdeentscheidungen die Möglichkeit, ein Gericht mit einer Abteilung für Verwaltungsstreitsachen anzurufen. Der EuGH bejaht die Vorlageberechtigung im Ergebnis jedoch mit dem Verweis darauf, dass die Zuständigkeit des nationalen Rats für Beschwerdeentscheidungen nicht zur Parteidisposition steht und seine Entscheidungen für die Parteien verbindlich sind.



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